Für den Politikwissenschafter Vedran Džihić ist das Regime in seiner bisherigen Form am Ende. Der Geist der demokratischen Erneuerung durch die serbische Jugend sei gekommen, um zu bleiben.
Seit dem Zusammenbruch des Bahnhofsvordachs in der Stadt Novi Sad im November des letzten Jahres, bei dem 15 Menschen getötet wurden, ist in Serbien nichts mehr so, wie es zuvor war. Trauer prägte die ersten Tage danach, Blumen wurden niedergelegt, Menschen gedachten der Toten schweigend. Das Regime von Präsident Aleksandar Vučić schaltete hingegen in den üblichen Modus der Leugnung und Beschwichtigung, schob die Schuld von sich, verstrickte sich in Widersprüche, ließ vorsichtshalber die regimetreuen Boulevardmedien die üblichen Attacken gegen die Opposition und die ehemaligen demokratischen Eliten reiten.
Die Menschen reagierten darauf wie schon nach dem Amoklauf an der Belgrader Schule im Mai 2023 zunehmend mit Wut und Zorn. Die anfänglichen Proteste, die sich in eine lange Reihe der Antiregimeproteste in Serbien einreihen, sah das Regime noch relativ gelassen. Mit der üblichen Mischung aus Aussitzen, Ablenken, Diffamieren und fallweiser Repression und Gewalt wird man die Proteste auch diesmal im Keim ersticken, muss sich Vučić gedacht haben. Nun, diesmal machte er die Rechnung ohne jene, die in all den Jahren zuvor relativ passiv geblieben waren – die Studierenden an den serbischen Universitäten.
Junge Bewegung
Am Samstag kam es schließlich zu den größten Protesten in der serbischen Geschichte. Nach konservativen Schätzungen nahmen 300.000 Menschen daran teil, nach anderen Schätzungen mehr als eine halbe Million. "15. für 15" – 15. März für die 15 Opfer von Novi Sad – ist wohl der vorläufige Kulminationspunkt einer jungen Bewegung der Hoffnung und Zuversicht, die mittlerweile ganz Europa und die Welt inspiriert.
Seit Jahresanfang marschierten Studierende in langen Fußläufen quer durch ganz Serbien, lächelnd, singend und tanzend, eben jugendlich verspielt, und eroberten damit die Herzen so vieler Menschen in kleinen Gemeinden und Dörfern. In den "Plena", ihren basisdemokratischen Versammlungen, verhandeln und diskutieren sie jeden Schritt und erfinden damit die Demokratie neu in einem Land, in dem freie und demokratische Entscheidungsfindung zum Fremdwort verkommen ist. Ohne hierarchische Strukturen und ohne eine Führungspersönlichkeit kommen sie aus und halten damit dem alles beherrschenden, machtbesessenen Vučić und dem Staat nach seinem Muster und Willen den Spiegel vor.
"Das Volk schweigt nicht mehr", "Statt dem Chaos die Weisheit", "Unsere Kraft ist die Vision der Zukunft", "Empathie und Solidarität sind zurückgekehrt, für das Wohl der ganzen Gesellschaft" – das sind nur einige der Kernbotschaften vom Samstag. Die Philosophin Martha Nussbaum beharrt in ihren Arbeiten auf dem Prinzip der "sozialen Macht der Liebe". Den "Königreichen der Angst", die eine große Gefahr für Demokratie sind, gerade jetzt auch in ihrer Heimat, den USA, setzt sie den unbeirrbaren Glauben an Mitmenschlichkeit und die Wirkmächtigkeit positiver politischer Emotionen gegenüber. Gerade dies – die praktische, kluge, kreative, gut organisierte und solidarische Liebe für ihr Land – setzen auch die Studierenden in Serbien Vučićs "Königreich der Angst" entgegen.
Schallkanone des Hasses
Die Antwort des Regimes auf die studentischen Proteste und die historische Kundgebung am Samstag fiel so wenig kreativ wie monströs aus. Die reale und symbolische Schallkanone des Hasses, der Propaganda und der Gewalt ergoss sich über den Menschen auf der Straße – just in jenem Moment, wo Hunderttausende mit ihren Handys den nächtlichen Himmel über Belgrad erleuchteten, und inmitten des Schweigens für die Opfer von Novi Sad. Schlägertrupps legten zeitgleich mit Provokationen los und versuchten Panik zu schüren. Offensichtlich funktionierten hier die Ankündigungen von Gewalt des Präsidenten Vučić in den Tagen vor der Großdemonstration wie eine selbsterfüllende Prophezeiung. In diesem gefährlichen Moment reagierten die studentischen Ordner besonnen und schnell, zogen die gelben Ordnerjacken demonstrativ aus und verkündeten das Ende der Kundgebung. Damit wurde wohl ein großes Blutvergießen verhindert.
Dass in den Tagen danach Vučić unermüdlich die eigene Propaganda – auch im ORF – wiederholt, von "bunten Revolutionen" von außen und der Verschwörung des liberalen "Deep State" der EU spricht, unentwegt weiter mit Gewalt droht und dabei tatkräftig aus Moskau und Budapest unterstützt wird, ändert nichts an einer simplen wie mächtigen Tatsache: Ein frischer Wind weht nun in ganz Serbien. Der Frühlingsaufbruch ist in der Luft zu spüren. Angst ist der Hoffnung und Zuversicht gewichen. Laut der unabhängigen serbischen NGO CRTA unterstützen mittlerweile etwa zwei Drittel der serbischen Bevölkerung die Studierenden in ihren Forderungen nach transparenten und funktionierenden Institutionen und Rechtsstaatlichkeit. Der serbische Kaiser der Angst ist nackt, das Regime ist in seiner bisherigen Form am Ende, auch wenn es dies selbst noch nicht wissen will.
"Der demokratische Neuanfang ist möglich."
Der Geist der demokratischen Erneuerung durch die Jugend Serbiens ist gekommen, um zu bleiben. Er macht sich in einem demokratisch verloren geglaubten kleinen Land auf dem Balkan breit. In dunklen Zeiten, in den die autoritären Kräfte durch den Rückenwind aus dem Weißen Haus sich auf der Siegerstraße wähnen, inspiriert er so viele Menschen in ganz Europa und sendet eine mächtige Botschaft: Der demokratische Neuanfang ist möglich, die reale Utopie einer besseren, gerechteren und solidarischen Gesellschaft, allen Widrigkeiten zum Trotz, lebt.