Risiken der Demokratie: „Wut und Ohnmacht“

Risiken der Demokratie: „Wut und Ohnmacht“

Vedran Dzihic
Senior Researcher

Die Furche
25. November 2020

Risiken der Demokratie: „Wut und Ohnmacht“
Welche Risiken birgt die Demokratie, und welche Rolle spielen Ängste, die von Regierenden befeuert werden? Der Politologe Vedran Dzihic erklärt, warum es jetzt eine demokratische Neubegründung braucht.

Wir leben in Hiobszeiten. Manchmal verdichten sie sich so stark, dass wenige Tage ausreichen, um den Glauben an die Menschheit zu erschüttern. Als am 2. November am Abend der Terroranschlag in Wien verübt wurde und in der gleichen Nacht der neuerliche Lockdown begann, wünschten sich viele einfach, dass das Jahr 2020 vorbei sei und sie in Ruhe lässt. Für die Demokratie war dieses Jahr wahrlich auch kein gemütliches. Im schmalen Büchlein mit dem provokanten Titel „Ist heute schon morgen?“ erinnert uns einer der führenden europäischen Intellektuellen, Ivan Krăstev, an den großartigen Roman von José Saramago, „Die Stadt der Blinden“, in dem die Epidemie der „weißen Blindheit“ die Bewohner einer Stadt erblinden und die Regierung zu drakonischen Maßnahmen – zum ultimativen Lockdown – greifen lässt.

So schnell und unerklärlich, wie die Epidemie kam, verschwindet sie in Saramagos Roman auch. Sie hinterlässt die Menschen mit der Frage, warum sie blind wurden. Krăstev ist überzeugt, mit der Metapher der Blindheit will uns Saramago helfen, die Wahrheit über unsere Gesellschaften zu sehen. Der Ausnahmezustand in Covid­19­Zeiten, schreibt Krăstev, beschert auch der Demokratie eine Auszeit. In dieser Auszeit sieht man deutlich, dass unsere Demokratie stets mit einem Risiko behaftet ist, dem Risiko des Scheiterns, dass aber zugleich in der permanenten Drohung des Scheiterns und der Unruhe stets auch der Kern ihrer Lebendigkeit als Herrschaftsform innewohnt – Demokratie als Risiko ohne Alternativen.

USA: Die fortdauernde Erregung

Die Krise und der Ausnahmezustand haben stets die Tendenz, nach relativ kurzer Zeit als Normalzustand zu erscheinen. Der kürzlich abgewählte und sich mit aller Macht dagegen stemmende US­Präsident Donald Trump hat seine ganze Amtszeit in eine fortdauernde Krise, eine fortdauernde Erregung umgewandelt, die die Grundfesten der US-­amerikanischen Demokratie zutiefst erschüttert hat. 72 Millionen US-Amerikaner gaben ihm dennoch die Stimme, sie akzeptierten den Trumpismus als Normalzustand. Was sind aber die Folgen des Trumpismus? Der offene Rassismus, die Politik der Lügen und der Angst, Menschenverachtung, Ignorieren der Checks and Balances, offene Misogynie, all dies wird in den USA nach Trump nicht so leicht verschwinden. Die Demokratie in den USA hat durch das risikoreiche politische Spiel von Trump einen enormen Schaden abbekommen.

Aber auch Europa ist vor Trumpismus nicht gefeit. In einigen europäischen Staaten hat die Coronakrise den Umschlag von demokratischen in offen illiberale oder sogar autoritäre Regierungsformen beschleunigt. Inmitten der EU setzen Ungarn und Polen scheinbar unbeirrt ihren Feldzug gegen die Rechtsstaatlichkeit fort und ziehen die gesamte Union noch tiefer in die Krise. In den Kandidatenländern für den EU­Beitritt wie etwa in Serbien oder der Türkei haben wir einen gefährlichen autoritären Point of no Return erreicht, der einen friedlichen und demokratischen Machtwechsel vom „System“ Vučić und Erdoğan sehr unwahrscheinlich macht.

In einigen europäischen Staaten hat die Coronakrise den Umschlag von demokratischen in offen illiberale oder sogar autoritäre Regierungsformen beschleunigt.

Das autoritäre Regierungsverständnis schimmert in Zeiten der Pandemie auch in so manchen politischen Entscheidungen in „alten europäischen“ Demokratien durch, wo mutwillig an der Verfassung vorbei Grundrechte eingeschränkt werden oder bewusst mit politischen Emotionen, vor allem mit Ängsten, gespielt wird. Als der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz am Beginn des ersten Lockdowns mit seiner an die Angst appellierenden Warnung „Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist“ die Bevölkerung vor Folgen der Corona­-Pandemie warnte, dürfte er gewusst haben, dass eine solche unmittelbare Gefahr zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestand. An diesem Tag gab es im Land gerade 356 positiv Getestete und einen Corona­-Toten.

Als er dann im Sommer vom Licht am Ende des Tunnels sprach, hätte er – so namhafte Statistiker und Corona­-Experten – wissen sollen, dass die Zahlen bereits nahezu unaufhaltsam steigen. Einmal bediente er das Repertoire der Angst, um die Bevölkerung zur Vorsicht zu bewegen, ein anderes Mal den Zweckoptimismus, um in der Pandemie durchzuhalten und wohl auch um die österreichische Wirtschaft zu schützen. Mit Emotionen zu spielen ist aber enorm riskant und tut der Demokratie im Land nicht gut. Gelingt es einmal, mit Angstparolen durchzukommen, verlieren sie ein zweites Mal womöglich an Wirksamkeit, wie der zweite Lockdown im November dieses Jahres zeigt. Beeilt man sich mit dem Optimismus, wird er seine motivierende Wirkung jenseits des Zweckoptimismus nicht so leicht erfüllen können. Demokratisches und verantwortungsvolles Regieren ist aber keines, das sich so leichtfertig auf das Spiel mit Emotionen oder Vorverurteilungen einlässt.

Der französische Historiker und Demokratietheoretiker Pierre Rosanvallon beschreibt in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch „Das Jahrhundert des Nationalismus“, was in einer Gesellschaft passieren kann, wenn die komplexe und fein austarierte Balance der demokratischen Repräsentation Risse zeigt – wenn Parlamente zu Kulissen werden, wenn mit Notstandsverordnungen gearbeitet wird, wenn Politik der Emotionen jene der breiten öffentlichen Ausverhandlung und des Widerstreits schrittweit ablöst. Zwischen Angst und Passivität schwankt eine solche Gesellschaft, so Rosanvallon. Sie tendiere dazu, „vom Ressentiment beherrscht zu werden, der Vereinigung von Wut und Ohnmacht“, und muss folglich „das Wirkliche ständig vereinfachen und verzerren, in der Hoffnung, es dadurch handhabbar zu machen“. Am Ende, so Rosanvallon in Anlehnung an seine These vom Jahrhundert des Populismus, muss die Gesellschaft „Sündenböcke zur einzigen Ursache all ihrer Leiden erheben und kann sich selbst nur noch als kompakten Block verstehen, der radikal bösen und unheilvollen Mächten ausgesetzt ist“.

Von Sündenböcken zum Nationalismus

Von Sündenböcken zum offenen Nationalismus und Rassismus ist es kein weiter Weg. Dann taucht wieder das Gespenst des homogenen Volkes, das wir aus dunklen Zeiten der europäischen Geschichte kennen, auf. „Wir“, die Guten und die Gerechten, gegen die „Anderen“, die Bösen, ist jene binäre Formel des Populismus, die Demokratie zersetzt. Die „Anderen“ können dann auch reine Fiktion sein, wie uns das der ungarische Premierminister Orbán in den letzten Jahren gezeigt hat. Wie er seine letzten Wahlkämpfe mit einer Anti­Flüchtlings­ und Anti­Migrations­Kampagne bestritt, ohne dass es in Ungarn überhaupt welche gibt, ist ein populistisches Kunststück sondergleichen. Sobald Regierende im Europa des 21. Jahrhunderts und inmitten einer mobilen und hochgradig globalisierten und vernetzten Welt sich anmaßen, das homogene Volk zu vertreten, ist die Demokratie gefährdet. In jeder Krise steckt aber auch der Keim des möglichen Neuanfangs. Vordergründig ist es sicherlich die Notwendigkeit, sich demokratisch zu engagieren. Einem solchen Engagement liegt – Rosanvallon zufolge – das Verständnis der Demokratie als eine „ständig zu leistende Arbeit“ zugrunde.

Die Gewählten müssen sich erklären, müssen Rechenschaft ablegen, müssen sich selbst stets amputieren, um der breiten Volkssouveränität Platz frei zu machen. Das bedeutet automatisch, vom hohen Ross vieler Despoten und Möchtegern­-Despoten in Europa runtersteigen zu müssen. Solidarität ist sicherlich eine weitere Antwort auf die Risiken und Krisenphänomene des Demokratischen. In Zeiten der Spaltungen und der neuen Bruchlinien kommen die Berührungslinien zwischen Menschen und Gruppen deutlicher zum Vorschein. Solidarität jener, die sich für Menschen auf der Flucht sowie für Migranten und Migrantinnen und ihre Rechte einsetzen, vernetzt sich mit dem Engagement jener, die gegen die Umweltverschmutzung oder den ausschließenden xenophoben und rassistischen Diskurs der neuen Rechten kämpfen. Aktives zivilgesellschaftliches Engagement für einen besseren Sozialstaat kommt in Berührung mit der Forderung, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern zu beenden. Die Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung erwächst direkt aus jedem Akt der Solidarität, der vom Einzelnen auf die Gemeinschaft abstrahieren kann. Und ja, wir müssen dazu letztlich wieder zusammenkommen, uns berühren, miteinander reden, streiten, diskutieren und träumen.

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