Politologe Vedran Džihić erzählt in "Ankommen" von Flucht und Neubeginn
Politologe Vedran Džihić erzählt in "Ankommen" von Flucht und Neubeginn
Vorabdruck der Publikation "Ankommen" von Vedran Dzihic im Der Standard
24. August 2024
Der renommierte Wissenschaftler kam als Flüchtling nach Österreich. Sein Buch behandelt seine Flucht, Traiskirchen, menschliche Gesten und Zugehörigkeit
Exakt drei Jahre nach jener Nacht im Jänner 1990, in der die Mutter mit ihrer Vorahnung des Krieges ins Wohnzimmer zum Vater und zu mir platzte, wurden wir aus unserer Heimatstadt Prijedor vertrieben. Vertrieben wurden wir, weil mein Vater einen muslimischen Namen trug und im dominanten serbischen Narrativ damit das "Andere" konstituierte, das durch die Politik der "ethnischen Säuberung" aus der Welt geschafft werden sollte.
Unerfüllter Traum
Und nun waren wir Flüchtlinge: mein aus einer muslimischen Familie stammender Vater, meine aus einer ukrainischen Familie stammende Mutter, beide vom Sozialismus und Atheismus überzeugt; mein Bruder und ich als Kinder aus einer "Mischehe". Der Name des Vaters besiegelte unser Schicksal in Bosnien und machte uns zu Feinden.
Die nächste Station auf der Flucht war Kroatien, wo wir nur wenige Woche blieben. Mein Vater hatte weiterhin Angst, dass er von kroatischen Behörden an die bosnische Front geschickt wird, so wie es vielen Flüchtlingen aus Bosnien und Herzegowina in diesen Wochen und Monaten passierte. Wir wussten, dass wir weiterziehen mussten.
Der erste Versuch, unsere zu diesem Zeitpunkt schon ehemalige jugoslawische Heimat endgültig zu verlassen, führte uns mit dem Zug zur ungarischen Grenze in der Hoffnung, dass wir es bis nach Schweden schaffen könnten. Doch die ungarischen Polizeibeamten nahmen uns vom Zug herunter und schickten uns nach Kroatien zurück. Schweden blieb ein unerfüllter Traum.
Ankunft im Flüchtlingscamp
Schon ziemlich verzweifelt erfuhren Vater und Mutter durch einen reinen Zufall, dass es in Österreich in der Nähe von Wien, in einem Ort namens Traiskirchen, noch Platz im dortigen Flüchtlingslager gäbe. Wir bereiteten unsere Dokumente vor, organisierten den Transport und brachen erneut auf. Es war ein kalter Wintermorgen mit sehr viel Schnee, als wir vor den Toren des Flüchtlingscamps in Traiskirchen standen. Jedes Mal, wenn ich diesen Moment in Erinnerungen nachzuspüren versuche, ist es der Schnee, der mir zuerst in den Sinn kommt.
Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk hielt 2023 die Eröffnungsrede beim Ingeborg Bachmann Literaturwettbewerb in Klagenfurt. Maljartschuk verblieb in ihrer Rede eine Weile bei ihrem Schnee, der mit meinem verschmolz: "Schnee legt sich betäubend auf den Schmerz und dämpft Geräusche. Stellen Sie sich eine Vergangenheit vor, in der nichts weh tut und niemand aus Verzweiflung jammert. Gäbe es eine solche Vergangenheit, würde es darin ganz bestimmt ununterbrochen schneien."
Wie Tanja Maljartschuk liebe auch ich den Schnee. Ich habe mich als Kind immer so sehr über jeden Schnee gefreut. Der erste Schnee aus Traiskirchen dämpfte kurz meinen Schmerz. Die Aufnahmeprozedur – wir mussten von der Asylbehörde in Traiskirchen registriert werden – dauerte bis tief in die Abendstunden.
Kleine Gesten
Nach langem Warten wurde uns ein vorläufiges Zimmer zugeteilt, ein kleiner Raum mit militärischen Stockbetten für acht Personen, in dem bereits eine junge vierköpfige iranische Familie wohnte. Ich spürte, wie sich im warmen Raum mein aus Angst, Anspannung und Ungewissheit bestehender Krampf langsam löste – wir waren endlich in Sicherheit.
Ich hatte noch nie in einem Stockbett geschlafen und wollte sofort oben sein. Ich kletterte hinauf, fand eine Decke auf dem Bett, aber kein Polster. "Hello", sagte da plötzlich eine Stimme. Ich drehte mich um und sah den iranischen Vater, der mit einem müden, aber breiten Lächeln ein kleines Polster in der Hand hielt und mir deutete, es zu nehmen.
Das Bild des lächelnden Fremden und des Polsters in seiner Hand, die Wärme dieses beengten Raumes und die tiefe Atmung meiner Eltern, die offensichtlich die Angst um unser Leben zumindest für eine kleine Weile beiseiteschieben und einschlafen konnten, haben sich tief in mir eingebrannt.
Glaube an das Gute
Die kleine Geste des Vaters der iranischen Familie und sein Lächeln gaben mir in dieser Nacht Sicherheit und Kraft zurück. Wir wussten damals nicht, wo wir waren. Wir wussten nicht, was der nächste Morgen bringen würde. Wir wussten nur, dass wir in Sicherheit und alle vier heil waren. Meinen Glauben an die Menschheit hatten die Kriegsmonate zutiefst erschüttert. Ich war skeptisch, ich war vorsichtig, ich sah überall Gefahren. Ich konnte damals nicht ahnen, dass die Geste des iranischen Vaters und das schlichte Polster der erste Schritt waren, mit dem mein Glaube an das Gute im Menschen zurückkehren würde.
Undurchsichtige Schattierung
Bald türmten sich vor uns jedoch neue Hürden, die das Flüchtling-Sein – das Anderssein – wohl mit sich bringt. Es waren aber nicht nur die Heckenwände aus Bürokratie und Institutionen, die neuen und für mich undurchsichtigen Schattierungen der unfreiwilligen neuen Heimat Österreich, die ich bald als junger Mann stellvertretend für meine Eltern zu deuten hatte. Es war zu Beginn des Aufenthalts in Traiskirchen auch ein für uns ungewohnter neuer Stempel des Andersseins, der meiner Familie und mir aufgedrückt wurde.
Wenn wir uns aus dem Flüchtlingslager in die Welt der Einheimischen hinausbewegten, um Kleinigkeiten im Lebensmittelgeschäft zu kaufen oder einen langen Spaziergang in den Weinbergen rund um Traiskirchen zu unternehmen, nannte man uns Flüchtlinge. Wer aber ist ein Flüchtling? Rechtlich ist die Definition klar. Wer "… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will", wird in Artikel 1a der Genfer Flüchtlingskonvention des Jahres 1951 als Flüchtling definiert.
Undurchsichtige Schattierung
Bald türmten sich vor uns jedoch neue Hürden, die das Flüchtling-Sein – das Anderssein – wohl mit sich bringt. Es waren aber nicht nur die Heckenwände aus Bürokratie und Institutionen, die neuen und für mich undurchsichtigen Schattierungen der unfreiwilligen neuen Heimat Österreich, die ich bald als junger Mann stellvertretend für meine Eltern zu deuten hatte. Es war zu Beginn des Aufenthalts in Traiskirchen auch ein für uns ungewohnter neuer Stempel des Andersseins, der meiner Familie und mir aufgedrückt wurde.
Mit jedem Tag in Traiskirchen realisierte ich langsam, dass ich ab nun ein Flüchtling war. Im kleinen quadratischen Ausweis aus dem Flüchtlingslager, der längst vergilbt ist, stand unter meinem Namen "De-facto-Flüchtling". Bei Begegnungen mit Menschen innerhalb des Lagers lautete die erste Frage stets: "Seit wann bist du in Traiskirchen? Wann bist du geflüchtet?"
Wenn wir uns aus dem Flüchtlingslager in die Welt der Einheimischen hinausbewegten, um Kleinigkeiten im Lebensmittelgeschäft zu kaufen oder einen langen Spaziergang in den Weinbergen rund um Traiskirchen zu unternehmen, nannte man uns Flüchtlinge. Wer aber ist ein Flüchtling? Rechtlich ist die Definition klar. Wer "… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will", wird in Artikel 1a der Genfer Flüchtlingskonvention des Jahres 1951 als Flüchtling definiert.
Anders sein
Die Rechte der Flüchtlinge im Aufnahmeland, ihr Schutz, Unterbringung und bestmögliche Unterstützung sind klar geregelt, ebenso wie die Verpflichtungen der Flüchtlinge gegenüber ihrem Gastland. Das internationale System und die einzelnen Nationalstaaten, die die Konvention ratifiziert haben, verpflichten sich, den geflüchteten Menschen Zuflucht zu geben und ihnen zu helfen. Jenseits der rechtlichen Definition entsteht rund um den Begriff der Flüchtlinge ein viel komplexerer Raum von Selbstzuschreibungen der geflüchteten Menschen selbst und Fremdzuschreibungen all jener, denen glücklicherweise das Fluchtschicksal erspart geblieben ist.
Eine kleine Schrift von Hannah Arendt, die sie mitten im Zweiten Weltkrieg verfasste, hat wie kaum ein anderer Text mein Denken geprägt. Wir Flüchtlinge wurde mit einem Schlag zu meinem Lebensbegleiter. Ich habe diesen kurzen Essay gefühlt Hunderte Male gelesen, bin immer wieder in den Gedanken und Gefühlen von Hannah Arendt, die hinter ihren Zeilen stehen, ver- sunken und habe mich und all die anderen Flüchtlinge darin erkannt. Den Platz zwischen den Zeilen habe ich mit meinen eigenen Schatten und Schattierungen des Flüchtlings-Seins gefüllt.
"Vergiss nicht, dass du nun ein Flüchtling bist und immer anders sein wirst", war ein Standardsatz meines Vaters in den ersten Jahren nach der Flucht. Bereits in Traiskirchen dachte ich so oft über diese Worte nach. Ich mochte diese Worte des Vaters nicht, da sie so end- gültig klangen – Flüchtling-Sein als ein Schicksal, dem man nicht entrinnen kann. Genauso wenig wie diese Mahnung des Vaters mochte ich es, wenn man mich Flüchtling nannte. Ich wollte schlicht als junger Mann mit all seinen Stärken und Schwächen gesehen werden.
Mein Vater wollte mich mit seinen Worten wohl auf all die Hürden und Bürden des Lebens in einem neuen Land vorbereiten und hoffte, wie er später schrieb, dass auch ich eines Tages ankommen und eben zu einem Mitbürger dieses Landes werden könnte.
Element der Freiheit
Ihren kleinen Essay beginnt Hannah Arendt mit ähnlichen Worten, wie sie mein Vater sprach: "Vor allem mögen wir es nicht, wenn man uns 'Flüchtlinge' nennt." Als Flüchtling verliert man so viel, schreibt sie, "unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer Welt."
Der Schmerz der Flucht verwandelt sich rasch in eine allgemeine Verwundbarkeit, die man als Flüchtling mit sich trägt. Man wird zum schwächsten Teil der Gesellschaft, man will aber leben und neu anfangen. Die Fähigkeit zum Neuanfang, die Hannah Arendt in ihrem Werk Vita activa oder vom tätigen Leben als ein zentrales Wesensmerkmal des Menschseins definiert, birgt das Element der Freiheit in sich, das eigene Leben neu zu beginnen. Ankommen steht wohl am Ende dieses Neubeginns.
Regeln für das Leben
Bei diesem Neubeginn, den Hannah Arendt am Beispiel der europäischen Juden nach dem Holocaust schildert, wartet die Aufnahmegesellschaft mit einer Reihe von Ratschlägen und Regeln für das neue Leben auf: "Aber dennoch haben wir sofort nach unserer Rettung (…) ein neues Leben angefangen und versucht, all die guten Ratschläge, die unsere Retter für uns bereithielten, so genau wie möglich zu befolgen. (…) Auf ganz freundliche Weise wurde uns klargemacht, dass das neue Land unsere neue Heimat werden würde."
Auch wir als Familie hatten in den ersten Tagen und Wochen in Traiskirchen "all die guten Ratschläge" befolgt. Vater und Mutter ahnten offensichtlich, dass der Krieg in der Heimat noch lange dauern würde und wir wohl nicht mehr nach Prijedor zurückkehren würden. "Nach so viel Unglück, da wollen wir, dass es künftig bombensicher wird," schreibt Arendt. Auch meine Eltern wollten einfach "Bombensicherheit" für ihre Kinder, um jeden Preis.
Zwischenstationen
Bereits auf der Zwischenstation unserer Flucht, in der kroatischen Hauptstadt Zagreb, erfuhren wir von ukrainischen Verwandten meiner Mutter, dass für die Ukrainer:innen, die aus den Kriegsgebieten in Bosnien und Herzegowina flüchteten, aus mehreren europäischen Staaten und so auch aus Österreich die Auswanderung nach Kanada möglich war.
Kanada war für die Eltern offensichtlich gerade weit genug vom Krieg in der Heimat entfernt. Der schnellste und leichteste Weg nach Kanada führte damals über die ukrainische Community in Wien. Im Community-Center in der Postgasse im 1. Wiener Gemeindebezirk, wo sich auch am Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine im Jahr 2022 eine zentrale Anlaufstelle für die Flüchtlingshilfe befand, teilte uns der ukrainische Pfarrer, mit dem wir dort das offizielle "Bewerbungsgespräch" für die Emigration nach Kanada führten, trocken mit, dass für meine Mutter und uns Kinder der Weg nach Kanada frei sei. Für meinen Vater, so der Pfarrer, würde dies leider nicht gehen, die Muslime nehme man nicht auf. So wurde mein Vater zu einem "schlechten" Flüchtling, zu einem Flüchtling, den man auf Grund der Religion seiner Eltern, mit der er nichts zu tun hatte, zum nicht wünschenswerten "Anderen" degradierte. Der rassistische ukrainische Pfarrer bestimmte damit das Schicksal meiner Familie. Wir blieben in Österreich und begannen, kleine Pläne für die Zeit nach Traiskirchen zu schmieden.
Die österreichische Bundesregierung hatte damals für die Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina, die von der "De-Facto-Unterstützungsaktion" des Bundes umfasst waren und damit für die Dauer des Krieges temporären Schutz in Österreich genießen konnten, die Möglichkeit der schrittweisen Integration in den Arbeitsmarkt offengelassen. Eine Arbeit für die Mutter oder den Vater finden, lautete das nächste Ziel, auf dem unsere Hoffnungen ruhten.
Wünschen und hoffen
"Da alle Welt plant und wünscht und hofft, tun wir das auch," so Hannah Arendt. Nun, planen, wünschen und hoffen reicht kaum aus. Ankommen ist für Flüchtlinge meist kein Resultat eines individuellen Kraftakts, sondern eines diffizilen Zusammenspiels: Der Wille und der innere Antrieb des Flüchtlings, manchmal auch das Glück, ein neues Leben beginnen zu können und ein neues Zuhause zu finden, müssen da sein. Das Aufnahmeland, die Gesellschaft, die ein neues Zuhause werden wird, muss den Schutz geben und alles daran setzen, dass diese verunsicherten Menschen zu neuer Stärke und Sicherheit finden können – als Mitmenschen, die fortan ihre neue Heimat bereichern werden. (Vedran Džihić, 24.8.2024)