Kosovo und Serbien im gefährlichen Dauerclinch – Die Rolle der informellen Strukturen

Kosovo und Serbien im gefährlichen Dauerclinch – Die Rolle der informellen Strukturen

Vedran Džihić
Senior Researcher

Policy Analysis 2 / 2025
Von Vedran Dzihic

Kosovo und Serbien im gefährlichen Dauerclinch – Die Rolle der informellen Strukturen 

Zusammenfassung:

In den letzten zwei Jahren hat sich der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo enorm zugespitzt. Die Ereignisse der letzten beiden Jahre und die sich schnell drehende Eskalationsspirale, so das Argument der vorliegenden Analyse, hängen direkt mit dem Einfluss Belgrads im Norden des Kosovo und der Stärke und Persistenz der dort vorhandenen informellen Strukturen zusammen. Serbien setzt auf teils kriminelle und bewaffnete nationalistische Gruppen, die immer wieder Gewaltakte im Norden des Kosovo verübten. Damit will Belgrad den territorialen Anspruch Serbiens auf den Kosovo untermauern. Dieser Anspruch ist aus der Sicht der Regierung in Prishtina ein aggressiver Akt gegen die Souveränität und territoriale Integrität der Republik Kosovo und wird dementsprechend von der Regierung von Albin Kurti bekämpft. Prishtina setzt die Strategie der immer offensiveren Bekämpfung der serbischen informellen Strukturen und des „Austrocknens“ der Parallelinstitutionen fort. Unter dieser Konstellation bleibt die Gefahr einer Eskalation hoch.

Wesentliche Empfehlungen:

  • Politik des Dialogs: Es ist am Beginn des Jahres 2025 absehbar, dass der Mangel an Bereitschaft für eine politische Lösung zwischen dem Kosovo und Serbien den Konflikt gefährlich zuspitzt. Die Politik der gegenseitigen Provokationen sollte im Interesse beider Staaten von einem neuen Pragmatismus und der Politik des Dialogs abgelöst werden.
  • Die EU muss Verhandlungsstärke zeigen: Die neue Führungsriege in der EU und vor allem die neue EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas müssen so schnell wie möglich im Jahr 2025 ein neues Format für den Dialog entwickeln und mit einer Mischung aus Druck und Anreizmechanismen im Kontext der EU-Integration beide Seiten zu verbindlichen Kompromissen bewegen.
  • Integration serbischer Strukturen in den kosovarischen Staat: Im Dialog zwischen Prishtina und Belgrad muss die schrittweise Reintegration der serbischen Strukturen im Kosovo die oberste Priorität sein. Die Rückkehr der serbischen Polizist:innen in den Dienst der kosovarischen Polizei wäre ein erster Schritt in Richtung der schrittweisen Zurückdrängung der Macht und des lokalen Gewaltmonopols der informellen (auch paramilitärischen) Strukturen.
  • Prishtina muss auf Serb:innen im Kosovo zugehen: Serb:innen im Kosovo sind gleichberechtigte Bewohner:innen des Kosovo. Die neue Regierung in Prishtina muss nach der Regierungsbildung in Folge der Wahlen im Februar 2025 einen glaubwürdigen und umsetzbaren Plan zur Formierung des Verbunds der serbischen Gemeinden vorlegen, der im Einklang mit der kosovarischen Verfassung steht.

Keywords: Kosovo, Serbien, Norden, Informalität, Souveränität, Konflikt

Executive Summary

In the last two years, the conflict between Serbia and Kosovo has escalated enormously. The events of the last two years and the almost spiraling escalation, as we argue in this analysis, are directly linked to Belgrade’s influence in northern Kosovo and the strength and persistence of the informal structures there. Serbia relies on partly criminal and armed nationalist groups, which have repeatedly committed acts of violence in northern Kosovo. In this way, Belgrade wants to underpin Serbia’s territorial claim to Kosovo. In the view of the government in Prishtina, this claim is an aggressive act against the sovereignty and territorial integrity of the Republic of Kosovo and is therefore opposed by the government of Albin Kurti. Prishtina is continuing its strategy of ever more aggressively combating Serbian informal structures and “drying up” parallel institutions. Under this constellation, the risk of escalation remains high.

Insights:

  • Policy of dialog: At the beginning of 2025, it is foreseeable that the lack of willingness for a political solution between Kosovo and Serbia is dangerously fueling the conflict. In the interests of both states, the policy of mutual provocation should be replaced by a new pragmatism and a policy of dialog.
  • The EU’s leadership is needed: The new leadership in the EU and, above all, the new EU High Representative for Foreign Affairs, Kaja Kallas, must develop a new format for the dialog as quickly as possible in 2025 and use a mixture of pressure and incentive mechanisms in the context of EU integration to persuade both sides to reach binding compromises.
  • Integration of Serbian structures into the Kosovar state: In the dialog between Prishtina and Belgrade, the gradual reintegration of Serbian structures into Kosovo must be the top priority. The return of Serbian police officers to service in the Kosovo police force would be a first step towards the gradual dismantling of the power of informal (also paramilitary) structures in the North of Kosovo.
  • Prishtina must reach out to Serbs in Kosovo: Serbs in Kosovo are citizens of Kosovo equal to all other citizens. Following the general elections in February 2025, the new government in Prishtina must present a credible and implementable plan for the formation of Association of Serb Majority Municipalities in line with the Kosovo constitution.

Keywords: Kosovo, Serbia, North, Informality, Sovereignty, Conflict

Einleitung

Im Oktober 2024 ließ der Oberkommandierende der NATO-Streitkräfte in Neapel, US Navy Admiral Stuart B. Munsch, mit einer klaren Warnung in Bezug auf die angespannte Situation zwischen dem Kosovo und Serbien aufhorchen: "Erhitzte politische Rhetorik könnte bestimmte Nicht-Regierugskräfte inspirieren, ähnliche Gewalt wie letztes Jahr auszuüben.“ (Reuters 12.10.2024). Die Erinnerungen an den Mai 2023, als im Nordkosovo mehr als 30 NATO-Soldat:innen von einer offensichtlich gut organisierten und gesteuerten informellen serbischen Gruppe zum Teil schwer verletzt wurden, sind bis heute präsent. Vertreter:innen der NATO bezeichnen bis heute diesen Vorfall als einen GAU für die NATO-Kräfte im Kosovo (Gespräch mit NN am 3.10.2024).

Wenige Monate später, standen der Kosovo bzw. die gesamte Region erneut am Rande eines neuen größeren Konflikts. Am 23. September kam es zu einem bewaffneten Angriff serbischer paramilitärischer Truppen auf Banjska, bei dem ein kosovarischer Polizist und drei Angreifer:innen getötet wurden. Wieder handelte es sich bei den Angreifer:innen um eine informelle militärische Truppe von Freischärlern, die aber diesmal militärische Uniformen trugen und gut mit entsprechender militärischer Ausstattung ausgerüstet waren. Am 30. November 2023 drohte die Lage als bei einem Sprengstoffanschlag der Ibar-Lepenac Kanal, der für die Wasser- und Stromversorgung des Kosovo von entscheidender Bedeutung ist zerstört wurde, weiter zu eskalieren. Die Regierung des Kosovo beschuldigte die Regierung in Belgrad, hinter den Anschlägen im Kosovo zu stehen. Belgrad wies wiederum diese Anschuldigungen von sich.

Die Ereignisse der letzten beiden Jahre, in denen wir eine fast andauernde Eskalation beobachten konnten, hängen direkt mit der Stärke und Persistenz der informellen Strukturen im Sicherheits-, Bildungs-, Gesundheit- und Gerichtsbarkeitsbereiche im Norden des Kosovo zusammen. Damit rückt im Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo die Bedeutung der Informalität in den Vordergrund. Die informellen Strukturen haben ihre Wurzeln in den sogenannten Parallelinstitutionen der Serb:innen, die nach dem Krieg im Jahr 1999 entstanden sind. Mit diesen Institutionen, die vom Kosovo nicht anerkannt und akzeptiert werden, behielt Serbien seit 1999 die Kontrolle über den Bildungs-, Justiz- und Gesundheitssektor. Daneben setzte Belgrad aber stets auf teils kriminelle und bewaffnete nationalistische Gruppen, die immer wieder Gewaltakte verübten. Sie werden bis heute von Belgrad aufrechterhalten und unterstützt und stellen nicht nur einen verlängerten Arm des Regimes und der Sicherheitsdiente in Belgrad dar, sondern dienen auch dazu, den territorialen Anspruch Serbiens auf den Kosovo aufrechtzuerhalten. Dieser Anspruch ist aus der Sicht der Regierung in Prishtina ein aggressiver Akt gegen die Souveränität und territoriale Integrität der Republik Kosovo und wird dementsprechend von der Regierung von Albin Kurti bekämpft.

Vor diesem Hintergrund beleuchtet die vorliegende Policy Analyse die Genese und Entwicklung der Informalität im Norden des Kosovo und fragt nach ihrer politischen Nutzung und Rolle, ordnet die aktuellen krisenhaften Entwicklungen mit dem Schwerpunkt auf den Gewaltakten der letzten beiden Jahre unter dem Aspekt der Informalität ein und geht letztlich der Frage nach, was dies für die zukünftigen Entwicklungen zwischen Serbien und dem Kosovo bedeuten kann.

Spannungsfeld zwischen Informalität und Souveränität

Die Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo sind seit der Ausrufung der Unabhängigkeit der einstigen autonomen serbischen Provinz Kosovo im Jahr 2008 von Spannungen geprägt. Serbien hat sich bislang geweigert die Unabhängigkeit bzw. Souveränität des Kosovo anzuerkennen. Unter der Vermittlung der EU unterzeichneten beide Seiten im Jahr 2013 das sogenannte Brüsseler Abkommen, mit dem sie sich zum Dialog und zur schrittweisen Normalisierung der Beziehungen verpflichteten. Auch wenn dieser Dialog in etwa ab 2015 sehr wenige Fortschritte brachte, garantierte er zumindest zeitweise die Aufrechterhaltung des Status quo ohne größeren Gewaltausbruch– gewissermaßen einen Kalten Frieden. Davon ist heute kaum etwas übriggeblieben (Dzihic 2019). Ein zentraler Grund für die Eskalation der Situation liegt in den unterschiedlichen Vorstellungen von der Finalität der Statusfrage in Belgrad und Prishtina und in den diesen Vorstellungen zugrundeliegenden politischen Strategien. Serbiens Präsident Aleksandar Vučić, setzt dabei auf die Instrumentalisierung der Kosovo-Frage für den Zweck der Stabilisierung seiner autoritären Herrschaft in Serbien. Dafür braucht er eine entsprechende Hebelwirkung im Norden des Kosovo, die er in den Strukturen der in den letzten Jahren dominanten politischen Partei der Serb:innen im Norden, der sogenannten Serbischen Liste, und auch den informellen Strukturen im Sicherheitsbereich, besitzt.

Serbien betrachtete den Norden des Kosovo mit seinen etwa 50.000 Bewohnern als einen Staat im Staat, nach dem Vorbild der Republika Srpska. Der Unterschied zur Republika Srpska, die als verfassungsmäßige Entität innerhalb von Bosnien und Herzegowina eigene Institutionen und relativ große Ressourcen besitzt, ist eine fehlende Institutionalisierung der serbischen Strukturen innerhalb der staatlichen Strukturen des Kosovo. Stattdessen haben sich nach dem Ende des Krieges 1999 im Norden des Kosovo informelle serbische Parallelstrukturen entwickelt. Diese sind der kosovarischen Regierung als auch der westlichen internationalen Gemeinschaft ein Dorn im Auge. Mit der Unabhängigkeit des Kosovo im Jahr 2008 wurde das Problem der kosovarischen Souveränität im Norden noch dringlicher. Die Regierung in Belgrad zeigte kein Interesse an der Integration des Nordens in den kosovarischen Staat, den sie bis heute nicht anerkennt (Kramer/Dzihic 2006 sowie Beha Adem 2011). Somit stellt Serbien bis heute den territorialen Anspruch auf den Norden des Kosovo.

Dieser Anspruch war und ist, so die zentrale These des vorliegenden Policy Papers, nur über die Top-Down organisierten und kontrollierten informellen serbischen Strukturen zu realisieren. Mangels formaler und institutioneller Stärke waren und sind sie aus der Sicht des Regimes in Belgrad die beste Garantie für die Aufrechterhaltung des Status quo.

Für den kosovarischen Premierminister Albin Kurti wiederum, ist die Durchsetzung der Souveränität und der Rechtsstaatlichkeit auf dem gesamten Territorium der Republik Kosovo und damit auch im Norden, ein erklärtes politisches Ziel, das er mit allen Mitteln zu verwirklichen sucht. Aus dem serbischen Anspruch auf das kosovarische Staatsgebiet, das mit Hilfe informeller Strukturen untermauert wird, und dem kosovo-albanischen Souveränitätsanspruch, ergibt sich das enorme krisen- und konflikthafte Potential rund um den Norden, der in den letzten Jahren die gesamte Region immer wieder an den Rand eines neuen bewaffneten Konflikts brachte.

Informalisierung Serbiens unter Vučić

Um die Herrschaft und Loyalität abzusichern, setzte man in Serbien seit der Machtübernahme von Aleksandar Vučić und seiner SNS im Jahr 2012 auf eine Art von Politik, die einen neuen „Gesellschaftsvertrag der Informalität“ mit sich brachte. (Harders 2011) Wenn auch es in der Geschichte Serbiens eine lange Tradition der informellen nationalistischen Netzwerke und eines „deep state“ gibt, hat die Informalität heute eine andere Ausprägung. In stark informellen Regimen mit autoritärer Regierungspraxis zählt die persönliche Treue zum „starken Mann“ an der Spitze des Regimes, die auf materieller Abhängigkeit, Parteiprivilegien, Clan-Zugehörigkeit, ethnischer Herkunft oder Religion beruht, als Grundlage der Macht. (Giordano/Hayoz 2013)

Die Informalität als Regierungspraxis führte in Serbien im Laufe der Zeit zu einer signifikanten Erosion formaler Institutionen. (Cvejic 2016) Je nach dem Amt, das Aleksandar Vucic als dominante politische Figur ausübte, wanderte auch das Zentrum der politischen Entscheidungen. Derzeit liegt es im Präsidentenamt und dies trotz der Tatsache, dass der serbische Präsident laut der Verfassung nur geringe Kompetenzen besitzt. Es gibt bislang kaum rivalisierende Gruppen innerhalb der SNS, die dem Präsidenten widersprechen würden. Von außen betrachtet wird bei jeder wichtigen Entscheidung auf das Machtwort von Vucic gewartet. Er nimmt sich – entgegen seinen verfassungsrechtlichen Kompetenzen – das Recht heraus, de facto die Regierungsgeschäfte zu führen. (Milacic 2024)

Als eine Konsequenz dieser enormen Machtkonzentration in den Händen von Aleksandar Vucic hat das serbische Parlament stark an Bedeutung eingebüßt. (CRTA 2020) Die SNS blieb mit ihren nahezu 800.000 Mitgliedern und weitverzweigten Strukturen in allen Teilen der Gesellschaft der zentrale Apparat zur Absicherung von Macht und Privilegien und zur Kontrolle des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft. So hat die SNS mit ihren Strukturen und ko-optierten Netzwerken von Geschäftsleuten de facto die Kontrolle über die serbische Wirtschaft übernommen. (Radeljic/Djordjevic 2020) Die Dominanz von klientelistischen Beziehungen im wirtschaftlichen Bereich ist bis heute ununterbrochen.

Die Informalisierung in Serbien unter dem Regime von Aleksandar Vučić wurde stets durch eine narrative bzw. diskursive Strategie begleitet, die sich aus der Kontinuität des serbischen Nationalismus ergibt. Die populistische-nationalistische Mobilisierung in Serbien bedient sich unterschiedlicher Versatzstücke des serbischen Nationalismus. Ein wichtiger Bestandteil davon ist die Kontinuität der Erzeugung von sogenannten „Gegnern des Volkes“ im Land selbst bzw. in der ex-jugoslawischen Nachbarschaft. Die binäre Einteilung des serbischen Volkes in „gute“ und „schlechte“ Serb:innen schließt nahtlos an die Einteilung der Völker in der Nachbarschaft Serbiens in „gute“ und „böse“ an. Zu den „bösen“ Nachbarn gehören nicht erst seit den Kriegen der 1990er Jahre vor allem die Kroat:innen, Kosovo-Albaner:innen und muslimischen Bosniak:innen. (Colovic 2023) Das Regime Vučić funktioniert nicht ohne seine Gegner und erzeugt permanent einen Ausnahmezustand, wo es immer um einen moralisierten Kampf gegen innere oder äußere Gegner geht.

Das ideologische Konzept des neuen serbischen Nationalismus ist im Konzept der „Serbischen Welt“ zusammengefasst (NZZ 2022, Biserko 2022).  „Serbische Welt“ bezieht sich auf die Idee von Großserbien, die im 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nationalistische Diskurse prägte. Der Diskurs von der „Serbischen Welt" erhebt den politischen und kulturellen Anspruch auf die Einheit des serbischen Volkes in allen Teilen des Westbalkans, wo Serb:innen derzeit leben, also auf die Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina, den Norden des Kosovo und Montenegro. (siehe: Cosic 2025) Der Kosovo ist hier von zentraler Bedeutung, und hier vor allem der Norden, wo das Regime von Aleksandar Vučić mit aller Kraft den Hoheitsanspruch des serbischen Staates aufrechterhält.

Top-Down-Informalität im Norden des Kosovo

Unmittelbar nach der Intervention der NATO im Jahr 1999 und dem Beginn des internationalen Protektorats im Kosovo unter der Ägide der UNMIK (United Nations Mission in Kosovo) haben sich im legalen Vakuum durch den ungelösten finalen Status des Kosovo die Parallelstrukturen der kosovarischen Serb:innen etabliert, die vor allem auf die Aufrechterhaltung des in der Resolution der UN 1244 festgehaltenen Status quo ausgerichtet waren, nach dem Kosovo weiterhin ein Teil des serbischen Staates bleibt.

Die Geschichte der ungeklärten Souveränität und bisweilen der Rechtslosigkeit im Norden des Kosovo hängt zusammen mit der Stärke der seit dem Ende des Krieges aufgebauten und von Belgrad abhängigen und kontrollierten Parallelinstitutionen, die im Bereich der Bildung, der Justiz und der Gesundheit und anfangs auch im Polizeibereich nach dem serbischen Recht und von Serbien finanziert agierten. In den ersten Jahren nach der Erklärung der Unabhängigkeit des Kosovo hat Serbien ungleich mehr Ressourcen in den Norden investiert als der kosovarische Staat. Nach einer Schätzung der International Crisis Group waren es in den ersten Jahren nach 2008 etwa 200 Millionen Euro, die Serbien im Norden für die Finanzierung der Parallelstrukturen ausgab, während Kosovo im Schnitt nur 8 Millionen Euro investierte. (ICG 2011)

Auch nach der Erklärung der Unabhängigkeit des Kosovo im Jahr 2008 blieben diese Strukturen intakt. Der Fokus lag einerseits auf Parallelinstitutionen in den Bereichen der Polizei, der Bildung, der Gesundheit und der Gerichtsbarkeit, andererseits entstand unter der Ägide Belgrads im Norden zunehmend eine Zone der Rechtlosigkeit, die von kriminellen Gruppen und unterschiedlichen Formen von Schwarzwirtschaft, Schmuggel und Drogenhandel geprägt waren. (Global Initiative 2021) Dieser Zustand erwies sich als attraktiv sowohl für die serbischen informellen Strukturen als auch für jene kriminellen Strukturen auf der albanischen Seite, die dann zum Teil auch in Kooperation mit serbischen kriminellen Strukturen ihre Geschäfte abwickelten. Der Nordkosovo hatte sich somit zu einem Safe Heaven für kriminelle Netzwerke aller Art entwickelt (Tagesanzeiger 2021).

Strukturell ist die Informalität im Norden des Kosovo vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie kaum lokal generiert und gesteuert wurde, sondern vielmehr von Belgrad und dortigen Machthabern. Diese Form von Informalität hat sich dann vor allem ab der Machtübernahme von Aleksandar Vučić zu einer deutlichen Top-Down-Informalität entwickelt, die zu einem wichtigen Machtmittel des Regimes in Belgrad wurde (Beha 2013). Top-Down informelle Strukturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre Stabilität und relative Resilienz der Tatsache verdanken, dass sie von einer kleinen Gruppe von handelnden Akteuren zentralistisch kontrolliert und gemanagt werden. (Helmke/Levitsky 2006)

Im Falle des Nordens des Kosovo gehört zu diesen Strukturen erstens die Regierung in Belgrad bzw. direkt der Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić. Zweitens zählt zu diesem Kreis die politische Führung der seit geraumer Zeit dominanten politischen Partei im Norden des Kosovo, nämlich der Srpska Lista. Srpska Lista wurde 2013 gegründet und stand von Beginn an in engster Nähe zur SNS und Aleksandar Vučić. Bis zum Angriff von Banjska im September 2023 war der stellvertretende Präsident der Srpska Lista, Milan Radoičić die zentrale Führungspersönlichkeit der Serbi:innen und der de facto informelle Herrscher im Norden. Drittens zählen zu den zentralen informellen Strukturen die Schmuggler und kriminellen Organisationen, wobei sich hier der Übergang zu den Paramilitärs, die in den letzten Jahren an Gewaltakten beteiligt waren, fließend gestaltet. In diesem Kontext wird vor allem in der Zeit seit dem Beginn des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine die Frage diskutiert, inwieweit der staatliche und von Informalität durchzogene Sicherheits- und Geheimdienstsektor in Serbien eine Rolle im Norden des Kosovo spielt und gezielt auf Befehl aus Belgrad die Stabilität bedroht. Zahlreiche Hinweise auf die Kooperation zwischen serbischen und russischen Sicherheits- und Geheimdienststrukturen sind nicht von der Hand zu weisen. (ICG 2024)

Scheitern des Dialogs und konflikthafte Zuspitzung der Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo ab 2023

Die Beziehungen zwischen Belgrad und Prishtina waren in den Jahren nach dem Krieg und in Folge der einseitigen Erklärung der kosovarischen Unabhängigkeit sehr schlecht. Serbien versuchte über den Norden seinen Einfluss auf den Kosovo geltend zu machen. Prishtina setzte mit Unterstützung des Westens auf den schrittweisen Auf- und Ausbau der Staatlichkeit, ohne dass es in der Lage war, die informellen Parallelstrukturen im Norden des Landes aufzulösen. Bewegung in diesen „frozen conflict“ (Bancroft 2008) kam erst mit dem von der EU vermittelten Dialog, der im Jahr 2013 im viel gefeierten und als historisch bezeichneten Abkommen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo mündete. Zum ersten Mal war es gelungen, auch sensible Punkte in die Verhandlungen zu inkludieren, darunter unter anderem die Integration des Nordkosovo in kosovarische Strukturen und somit die Aufhebung serbischer Parallelstrukturen. Damit zusammenhängend sollte die serbische Minderheit im Kosovo durch die Einrichtung eines serbischen Gemeindeverbunds mehr Autonomierechte bekommen.

Serbiens Präsident Aleksandar Vučić willigte zwar in eine schrittweise pragmatische Normalisierung der Beziehungen ein, baute aber nicht die informellen Strukturen im Norden des Kosovo ab. Zentrale Bereiche des öffentlichen Lebens wurden weiterhin durch Serbien finanziert. Dazu gehören die Verwaltungsstrukturen, das Bildungswesen, die Justiz, Polizei sowie der Sicherheitsapparat. Ab 2014 investierte Vučić große Anstrengungen in den Aufbau einer von ihm direkt gesteuerten politischen Bewegung und Partei, der Srpska Lista (Serbische Liste), die ab 2014 an den Wahlen im Kosovo teilnahm und schrittweise all die anderen politischen Parteien der Kosovo-Serben verdrängte. Srpska Lista wurde zum Sammelbecken und zum Organisationszentrum aller informellen Aktivitäten im Norden des Kosovo. Gegen die politischen Gegner im Norden des Kosovo rechnete man brutal ab. Wie die informellen kriminellen Strukturen unter der Kontrolle von Srpska Lista und Belgrad vorgingen, illustriert am besten der Fall der Ermordung von Oliver Ivanović, dem Präsidenten der Bürgerinitiative Sloboda, Demokratija, Pravda („Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit“), im Jänner 2018. Ivanović, eine der gemäßigtsten serbischen Stimmen im Kosovo wurde vor seinem Haus in Nord Mitrovica aus einem vorbeifahrenden Auto angeschossen und tödlich verwundet.

Oliver Ivanović war ein Politiker, der kein Blatt vor dem Mund nahm. Im September 2017 sprach er von einem „unglaublichen Gefühl der Bedrohung und der Angst“ im serbisch besiedelten Norden des Kosovo, von kriminellen serbischen Gangs und Lokalstrukturen, die im Niemandsland zwischen Serbien und dem zuallermeist albanisch besiedelten Restkosovo ihr Unwesen treiben. „Es ist tragisch“, sagte Ivanović, „dass man nach 18 Jahren des Lebens in der Angst vor extremen Albanern nun vor extremen Serben Angst hat und deswegen auswandert.“ (Ivanovic 2017)

In den Jahren nach 2018 verschlechterten sich dann die Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo zunehmend, trotz Deeskalationsversuchen der EU und des Westens. Der Norden des Kosovo blieb der Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Auf Grund des enormen Konfliktpotentials drängten die EU und die USA Anfang 2023 beide Seiten an den Verhandlungstisch, um einen großen Wurf zu versuchen – eine langfristige Entschärfung des Konflikts und eine substanzielle und pragmatische Lösung, mit der sowohl Belgrad als auch Pristina leben können. Die Verhandlungsgrundlage wurde der sogenannte „deutsch-französische Vorschlag“, der nach dem Vorbild des deutsch-deutschen Grundlagenvertrags die vermeintliche Zauberformel postulierte.  Die beiden Staaten sollen sich laut diesem Vorschlag zwar nicht anerkennen, aber auch nicht in ihrer Entwicklung behindern. Serbien solle die kosovarische Unabhängigkeit nicht mehr behindern, der Kosovo im Gegenzug der serbischen Minderheit breite Autonomie im Rahmen des sogenannten serbischen Gemeindeverbandes einräumen. Dieser Vorschlag mündete dann im sogenannten „Europäischen Vorschlag“, der Ende Februar 2023 vom European External Action Service veröffentlicht wurde. (EEAS 2023)

Im März 2023 verkündete Josep Borrell im mazedonischen Ohrid den vermeintlichen Durchbruch mit einer Vereinbarung zur Normalisierung der Beziehungen. Die Wochen nach dem vermeintlichen „Durchbruch“ verwandelten sich aber unverhofft rasch in einen Alptraum, der bis heute andauert und sicherlich sehr stark die Entscheidung von Vučić für die Ausrufung der vorgezogenen Wahlen erklärt.

Nachdem sich die kosovarische Seite mit Sanctus des Westens entschied, im April 2023 die längst fälligen Gemeindewahlen in den vier mehrheitlich serbisch dominierten Gemeinden Nord Mitrovica, Leposavić, Zvečan i Zubinom Potoku durchführen zu lassen, eskalierte die Situation erneut. Die dominante serbische Partei im Norden des Kosovo, die von Belgrad kontrollierte „Serbische Liste“ boykottierte die Wahl und folgte damit dem Aufruf des serbischen Präsidenten Vučić, der zum Wahlboykott gegen die von Prishtina „aufoktroyierten Wahlen“ aufrief. Am Ende waren es nur 13 Serb:innen, die zu den Wahlurnen gingen und insgesamt etwas mehr als 1.500 Wähler:innen, die wählten (die Wahlbeteiligung betrug am Ende 3,5%). (BBC 2023) Beim Versuch der Installierung der albanischen Bürgermeister in den vier von den kosovarischen Serb:innen dominierten Gemeinden im Norden des Kosovo kam es zum massivsten Gewaltausbruch seit Jahren. Am 29. Mai attackierten die gut organisierten kosovarisch-serbischen Protestierenden die NATO-Soldaten mit Blendgranaten und Steinen und verletzten 30 KFOR-Soldaten zum Teil schwer. Vučić versetzte sofort das serbische Militär in erhöhte Alarmbereitschaft und ließ unter Applaus aus Moskau serbische Soldaten an die Grenze zum Kosovo verlegen. Die Vereinbarung von Ohrid löste sich im Lärm der Granaten und im Nebel des Tränengases in Luft auf. (Dzihic 2023)

Realpolitisch war damit bereits der Prozess der Verhandlungen mit dem Kosovo unter der Ägide der EU de facto tot. Die Verhandlungsführenden in den USA und der EU erhöhten daraufhin zunächst einmal den Druck auf den kosovarischen Premierminister Albin Kurti. Er hätte die rote Linie überschritten und sei verantwortlich für die Eskalation, so der Westen, und überhaupt sei er sehr stur und prinzipientreu.[1] Im Juni führte man dann Maßnahmen gegen den Kosovo ein, die bis heute (Dezember 2024) andauern: man setzte vorübergehend die Arbeit der gemeinsamen Kommissionen zwischen der EU und dem Kosovo aus, die bilateralen Besuche der kosovarischen Vertreter:innen in Brüssel wurden eingeschränkt, auch die Programme für den Kosovo aus dem sogenannten „Instrument for Pre-Accession Assistance – IPA“ für 2024 wurden suspendiert. Aleksandar Vučić bot den Leser:innen und Zuseher:innen in der Zwischenzeit, mit Hilfe der vom Regime in Belgrad kontrollierten Medien, eine verstärkte Dämonisierung des kosovarischen Premierministers Kurti und der Kosovo-Albaner:innen insgesamt. Das äußerst negative und diffamierende Narrativ über die Kosovo-Alber:innen in Serbien bleibt bis heute bestehen. Dabei werden Serb:innen im Norden des Kosovo als Opfer der aggressiven Politik der angeblichen „ethnischen Säuberung“ durch Kurti dargestellt. (CRTA 2023 und 2024)

Der Angriff von Banjska – informelle Strukturen bringen die Region an den Rand des Krieges

Am 24. September 2023 kam es zum bisher schwerwiegendsten Zwischenfall im Norden des Kosovo. In den frühen Morgenstunden des 24. September errichteten schwer bewaffnete serbische Paramilitärs in der Ortschaft Zvečan im Norden des Kosovo in der Nähe des serbisch-orthodoxen Klosters Banjska Straßenbarrikaden. Die kosovarische Polizei rückte an, die serbischen Paramilitärs eröffneten das Feuer und töteten einen kosovarischen Polizisten und verwundeten einen weiteren. In einer den ganzen Tag andauernden Aktion der kosovarischen Sonderpolizei wurden drei serbische Paramilitärs getötet und einige verletzt bzw. verhaftet. Ein Großteil des Trupps, so zeigten es Drohnenaufnahmen, konnte aber das kosovarische Staatsgebiet zu Fuß wieder Richtung Serbien verlassen. In den Tagen danach wurde das Ausmaß dieses Angriffs klar: Das enorme Waffenarsenal, das konfisziert wurde und aus Serbien stammt, deutet auf ein massives militärisches Vorhaben hin, das von den informellen paramilitärischen Truppen durchgeführt wurde. Der Anführer des Trupps war der starke Mann im Norden des Kosovo, Milan Radojčić. Radojčić, der auch Vizepräsident der im Norden des Kosovo dominanten serbischen Partei, Srpska Lista, ist, wurde im Laufe der Zeit zum de-facto Anführer der informellen Strukturen der Kosovo-Serb:innen im Norden des Kosovo und zum verlängerten Arm von Aleksandar Vučić im Kosovo. (Prishtina Insight, 27.10.2023) Er zeigte sich auch in den letzten Jahren immer an der Seite von Vučić und ist bekannt für seine kriminellen Machenschaften, durch die er sich enorm bereichert hat und die ihm einen Platz auf der US-amerikanischen Sanktionsliste brachten.

In einer ersten Reaktion des serbischen Präsidenten nach dem Vorfall vom September 2024 leugnete Vučić jegliche Involvierung Serbiens in den Angriff und setzte auf das alte Narrativ – Kurti betreibe im Norden des Kosovo eine Politik der ethnischen Säuberung, er wolle die Serb:innen im Kosovo „ausrotten“, und der Angriff sei nur eine Reaktion darauf gewesen (RSE 2023). Als nur einige Tage später offensichtlich wurde, dass Radojčić die Gruppe angeführt hatte, versuchte Vučić, ihn zum allein handelnden und von Belgrad unabhängig agierenden Täter zu positionieren. Der Westen forderte eine Untersuchung der Vorgänge von Banjska und forderte einen Prozess gegen Radojčić. Dieser wurde zwar von der serbischen Justiz verhört, dann aber rasch auf freien Fuß gesetzt. (ARD, 4.10.2023) Seitdem wurde mehrmals direkt oder indirekt von Vučić selbst und von den Boulevardmedien eine schützende Hand über ihn gehalten.

Als Reaktion auf die Ereignisse von Banjska wurde die Kritik an Serbien zunehmend stärker. Das relativ gute Standing von Aleksandar Vučić im Westen und vor allem in Washington DC und Brüssel, das er sich im Verlauf des Jahres 2022 und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 aufgebaut hatte, begann unter dem Eindruck des Angriffs in Banjska stark zu leiden. Es gab viele Stimmen in westlichen Hauptstädten, die zu Sanktionen gegen Serbien aufriefen, sollten sich die Vermutungen bestätigen, dass Belgrad hinter dem Angriff stand oder zumindest von diesem gewusst habe. (Vulovic 2023)

In Bezug auf den Vorfall in Banjska in die Enge getrieben – sowohl von der Opposition und den kritischen Stimmen zu Hause als auch vom Westen – entschied sich Aleksandar Vučić zur Ausrufung von Neuwahlen. Die Wahlen fanden am 17. Dezember 2023 statt und Vučić konnte sich wiederholt an der Macht behaupten. Die Situation im Kosovo, die Bedrohung durch Kosovo-Albaner:innen und der vorgebliche Schutz des serbischen Volkes dort durch Aleksandar Vučić war ein Hauptnarrativ im Wahlkampf. Die Wahlen, die weder fair noch frei waren, konnte Vučić für sich entscheiden. (Dzihic 2024)

Die konflikthafte Zuspitzung seit 2023 mit Hilfe der informellen Strukturen im Norden half Vučić intern, seine Macht zu stabilisieren und abzusichern. Aus der strukturellen Top-Down Informalisierung des Nordens konnte Vučić also kurzfristige politische Vorteile generieren. Langfristig steigt aber die Gefahr eines größeren Konflikts und wohl auch die Gefahr aus Vučićs Sicht, dass er im Poker gegen Albin Kurti, der unbeirrt auf die Durchsetzung der vollen Souveränität der Republik Kosovo auch im Norden setzt und zunehmend aggressiver gegen die informellen Strukturen im Norden vorgeht, verliert.

Souveränität und Machteinsatz als Antwort auf Informalität – Albin Kurti auf Konfrontationskurs mit Serbien

Eine strukturelle Verschiebung in der Politik der kosovo-albanischen Regierung unter Kurti in Bezug auf Serbien und den Norden des Kosovo erfolgte bereits vor dem Angriff in Banjska. Die Koordinaten der kosovo-albanischen Politik in Bezug auf den Norden verschoben sich zunehmend mit dem zweiten Wahlsieg von Albin Kurti bei den Wahlen im Kosovo im Jahr 2021 und seiner Machtübernahme als Premierminister im März 2021.

Nach dem Beginn des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 entschied sich Serbien für einen Schaukelkurs in der außenpolitischen Orientierung, in dem es sich zwischen dem Westen, Russland und China positionierte. Die Beziehungen zu Russland, dem „großen“ Bruder der Serben, veränderten sich und der Einfluss Moskaus auf Belgrad wandelte sich zusehends, allerdings behielt Serbien seinen Kurs in Sachen Sanktionen gegen Russland bei. Bis heute ist Serbien neben Belarus und der Türkei das einzige Land in Europa, das keine Sanktionen gegen Russland verhängt hat. Albin Kurti nahm auf der anderen Seite die neue geopolitische Situation zum Anlass, um sich hundertprozentig dem Kurs des Westens und der EU in Bezug auf Russland anzuschließen und fortan auf dem Narrativ, dass Serbien gemeinsam mit Russland alles daransetzt, den Kosovo zu destabilisieren, zu beharren.

Vučić benutze den Kosovo und vor allem den von ihm über die Serbische Liste und die informellen Strukturen kontrollierten Norden, um die Situation nach Belieben und in Abhängigkeit von innenpolitischen Entwicklungen zu eskalieren. Vor allem in Zeiten, wo Vučić innenpolitisch von massiven Protesten und der Opposition unter großen Druck geriet, ließ er die Situation im Kosovo bewusst eskalieren. Als Reaktion darauf entschied sich Albin Kurti – begleitet vom Narrativ der serbisch-russischen Kooperation in Bezug auf den Kosovo – dieser Taktik durch einen immer stärkeren Vorstoß der kosovarischen Behörden und Polizei im Norden zu begegnen. Das Motto lautet – das ist unser Staatsgebiet und es ist unser souveränes Recht, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit auf dem gesamten Territorium durchzusetzen.

Dass Kurti diesen Kurs unbeirrt fortsetzt, zeigte sich im Spätherbst und Frühjahr 2024 deutlich. Ende November 2024 kam es zu einem Sprengstoff-Anschlag auf einen Wasserkanal, der den Stausee Gazivoda, der im Norden Kosovos liegt, mit dem Wasserleitungssystem für die kosovarische Hauptstadt Prishtina verbindet. Durch den Anschlag blieben 200.000 Haushalte in mehreren Städten ohne Wasser, auch der Strom wurde abgeschaltet. (Der Standard, 30.11.2024) Premierminister Kurti beschuldigte die serbischen Strukturen, hinter dem Anschlag auf den Kanal Ibro Lepenac zu stecken. "Nach unserer festen Überzeugung kann es für die Organisation und Orchestrierung dieses Angriffs keine andere Adresse für Verantwortung und Schuld geben als das offizielle Belgrad und seine kriminellen Strukturen, angeführt von Milan Radoičić, mit Unterstützung serbischer Institutionen und des Präsidenten Serbiens, Aleksandar Vučić", so Kurti. (Der Standard, 30.11.2024) Damit lieferte er noch einmal das Argument für sein Insistieren auf der Bekämpfung der informellen Strukturen im Norden des Kosovo.

Die kosovarische Polizei und die Sondereinheiten verstärkten als Reaktion auf den Anschlag ihre Präsenz im Norden des Kosovo. Zehn Orte im Norden des Landes wurden durchsucht und mehrere Serb:innen verhaftet. Bei den Razzien wurde ein großes Waffenarsenal inkl. zahlreicher Embleme russischer Spezialeinheiten und Flaggen des russischen Zarenreichs gefunden. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić wies seinerseits alle Vorwürfe der kosovarischen Seite zurück und sprach von einem „großen hybriden Angriff auf unser Land“. Er deutete an, dass der Kosovo und direkt der kosovarische Premierminister hinter dem Angriff stecken würden. (N1, 1.12.2024) Anfang Jänner setzte Kurti den nächsten Schritt und ließ die kosovarische Polizei gegen die serbischen Parallelinstitutionen vorgehen. Wenige Wochen vor den Wahlen im Kosovo, die Anfang Februar 2025 stattfinden werden, drang die Polizei ohne Ankündigung und richterlichen Beschluss in mehr als 30 Regionalbüros und serbische Einrichtungen und schloss sie. Der kosovarische Innenminister, Xhelal Svecla, sprach nach der Aktion von einem „Ende der kriminellen Machenschaften“ Serbiens im Norden und davon, dass nun „das Kapitel der illegalen kriminellen serbischen Parallelstrukturen geschlossen“ wurde. (ARD 16.1.2024)

Insgesamt verfestigte sich in den Tagen seit dem Anschlag auf den Kanal noch einmal das Muster, das aus den letzten Jahren allzu bekannt ist: Ohne die informellen Strukturen und die offensichtlich im Norden agierenden serbischen Gruppen wäre der Anschlag kaum möglich gewesen. Einige Kommentatoren in Serbien argumentieren, dass Vučić hinter dem Angriff steht und der Angriff ein Versuch war, von den derzeit massiven Protesten in Serbien abzulenken – eine Methode, die Vučić nicht zum ersten Mal einsetzen würde. (Kosova Info, 10.6.2023, Danas, 19.12.2024) Der kosovarische Premierminister Kurti nutzt aber den Anschlag sehr geschickt aus und baut polizeiliche Präsenz im Norden des Kosovo aus, auch diesmal mit dem Argument, dass die Bekämpfung der serbischen informellen Strukturen und Kräfte den einzigen Weg zur Durchsetzung der Souveränität der Republik auf dem gesamten Staatsterritorium darstellt. Unter dieser Konstellation scheint die Fortsetzung des Konflikts inkl. einer weiterer Eskalation wahrscheinlich zu sein.

Ausblick – Bestehendes Konfliktmuster bleibt, Eskalation nicht ausgeschlossen

Es ist am Beginn des Jahres 2025 absehbar, dass der Mangel an Bereitschaft für eine politische Lösung zwischen dem Kosovo und Serbien den Konflikt gefährlich zuspitzen lässt. Aus der Sicht von Belgrad stellen dabei die Top-Down organisierten und kontrollierten informellen serbischen Strukturen im Norden des Kosovo den zentralen Hebel zur Untermauerung des serbischen Anspruchs auf den Kosovo dar. Damit ergibt sich ein enormes Sicherheitsrisiko. Woraus besteht es konkret? Die offensichtlich von Belgrad kontrollierten paramilitärischen Strukturen im Norden des Kosovo sind weiterhin vorhanden. Der militärische Vorfall in Banjska, der letzte Angriff auf die kritische Infrastruktur des Kosovo sowie die Tatsache, dass der langjährige verlängerte Arm von Vučić im Norden, Milan Radojčić, weiterhin aus dem Hintergrund Fäden ziehen kann,[2] (KOSSEV 19.12.2024, RSE 11.12.2024) zeigen, dass das Stör- und Eskalationspotential auf der serbischen Seite bewusst hochgehalten wird. Auch das im Verlauf des Jahres 2024 immer wieder erfolgte Zusammenziehen der serbischen Streitkräfte in die unmittelbare Nähe der Grenze und die in den Regimemedien unverblümte Drohung mit Krieg, sollten seitens des Westens und der NATO nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Berichten zufolge hat Serbien mindestens zweimal verdeckt Truppen in den Kosovo entsandt, die jedoch bisher nicht tätig geworden sind. (ICG 2024)

Unterdessen bekräftigt die Regierung Kurti ihren absoluten Souveränitätsanspruch auf den Norden des Kosovo. Prishtina setzt die Strategie der immer offensiveren Bekämpfung der serbischen informellen Strukturen und des „Austrocknens“ der Parallelinstitutionen fort. Zum Einsatz kommen auch teils schwer bewaffnete Sonderpolizeikräfte. Berichte über Schikanen der serbischen Bevölkerung im Norden häuften sich zuletzt. (Der Standard, 8.9.2024) Das neueste Vorgehen des Kosovo gegen die serbischen Regionalbüros, die von der Polizei Mitte Jänner geschlossen wurden, fügt sich hier nahtlos in das Gesamtbild. Das ohnehin geringe Vertrauen zwischen Kosovo-Albaner:innen und Serb:innen ist in den letzten Jahren auf einen historischen Tiefstand gesunken. (Vreme 26.11.2024)

Da die Gefahr von Zusammenstößen konstant hoch ist, sind KFOR und EULEX de facto in Daueralarmzustand. Man will auf der Seite der NATO verhindern, dass eigene Soldat:innen wie im Jahr 2023 zwischen die Fronten geraten. Der Westen, hier vor allem die EU und die NATO, müssen alles daransetzen, dass es im Jahr 2025 zur Wiederbelebung des politischen Dialogs kommt. In diesem Dialog muss die schrittweise Reintegration der serbischen Strukturen in den Kosovo die oberste Priorität sein. Dies wird wohl nur im Rahmen eines neu zu formierenden Verbunds der serbischen Gemeinden geschehen können, einer Verpflichtung für den Kosovo, die sich aus dem Brüsseler Abkommen 2013 ergibt.

Mit einer Rückkehr der serbischen Polizist:innen in den Dienst in der kosovarischen Polizei wäre ein erster Schritt in Richtung der schrittweisen Zurückdrängung der Macht und des lokalen Gewaltmonopols der informellen (auch paramilitärischen Strukturen) gesetzt. Das Aleksandar Vučić bereit ist, die informellen Strukturen und damit de facto die politische Kontrolle über den Norden aufzugeben, ist aus der derzeitigen Sicht eher unwahrscheinlich. Solange der Kosovo in der serbischen innenpolitischen Auseinandersetzung für die Stabilisierung des Regimes benötigt wird, wird Belgrad die derzeitige Politik der Aufrechterhaltung des Status quo mit allen Mitteln fortsetzen.

Eine mögliche Veränderung in der serbisch-kosovarischen Konstellation könnte sich durch die Übernahme der US-Präsidentschaft von Donald Trump ergeben. In Serbien hat das Regime den Sieg von Trump gefeiert und sieht in ihm einen neuen Verbündeten, der auch in Bezug auf den Kosovo – und übrigens auch Bosnien und Herzegowina – dafür sorgen kann, dass Serbien seine Interessen durchsetzt. In rechtsnationalistischen Kreisen in Serbien erhofft man sich von Trump Unterstützung für die Idee der Teilung des Kosovo, aber auch die Sezession der Republika Srpska aus Bosnien und Herzegowina und damit für die Umsetzung der Ideologie der „Serbischen Welt“. Die letzte Trump-Administration mit dem damaligen Westbalkanbeauftragten Richard Grenell hat bereits im Jahr 2018 die Idee des Gebietstausches zwischen Serbien und dem Kosovo ausgelotet und politisch unterstützt. Ein solcher Schritt würde die Büchse der Pandora des Nationalismus und der neuen Konflikte am Balkan eröffnen. In diesem äußerst negativen Szenario würden die bestehenden informellen und zum Teil paramilitärischen Strukturen eine zentrale Rolle einnehmen und die Aufgabe der schrittweisen Eskalation der Situation übernehmen. In diesem Fall wäre die Sicherheit der gesamten Region bedroht.

[1] Diese Einschätzung protokollierte der Autor dieses Beitrags in mehreren Chatham House Gesprächen im Verlauf des Jahres mit führenden westlichen Regierungsvertretern, die für den Westbalkan zuständig sind.

[2] Der kosovarische Geheimdienst behauptete im Dezember 2024, Beweise vorliegen zu haben, dass hinter dem Anschlag auf den Wasserversorgungskanal im Norden des Kosovo Milan Radojčić und Belgrad stehen.

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