Mehr als AfD und FPÖ: Rechtspopulisten in Europa auf dem Vormarsch – was der Umfrage-Vergleich zeigt
Mehr als AfD und FPÖ: Rechtspopulisten in Europa auf dem Vormarsch – was der Umfrage-Vergleich zeigt
Frankfurter Rundschau
Interview mit Vedran Dzihic
28. Februar 2024
Eine Auswertung von IPPEN.MEDIA zeigt: Die Rechtspopulisten sind in Europa im Höhenflug. Deutschland sticht hervor, liefert aber nicht die drastischsten Zahlen.
München/Berlin – Steckt Europa ausgerechnet im Jahr der Europawahl mitten in einem Rechtsruck? Gerade im deutschen Sprachraum hat es den Anschein. Und ein Vergleich aktueller Umfragen aus der gesamten EU mit den vorangegangen nationalen Parlamentswahlen untermauert den Eindruck – bei weitem nicht überall, aber vielerorts.
Eine Analyse von IPPEN.MEDIA zeigt: Nicht nur AfD und FPÖ haben zuletzt in Sonntagsfragen deutlich zugelegt. Von Portugal über Frankreich bis Rumänien liegen rechtspopulistische Parteien weit über ihren letzten nationalen Wahlergebnissen. Wenn auch auf teils sehr unterschiedlichem Gesamtniveau.
Mithilfe von Kartenmaterial und Tabellen lässt sich diese Tendenz veranschaulichen. Rein geografische Schwerpunkte gibt es dabei offenbar kaum. Es gibt andere Hintergründe, ganz allgemeine und sehr konkrete. Grundsätzlich liege die Erklärung „im Wandel der Gesellschaften”, sagte der Berliner Parteien- und Protestforscher Endre Borbáth IPPEN.MEDIA dazu. Wie stark Rechtsextremisten konkret werden, hänge von einer „Vielzahl von Faktoren“ ab. Borbáth warnte zugleich vor sehr realen Gefahren für den europäischen Einigungsprozess – und vor der These, der Zuspruch für rechtspopulistische Parteien lasse sich über Regierungsbeteiligungen eindampfen.
Rechtspopulisten vor Europawahl 2024 auf dem Vormarsch – nicht nur AfD und FPÖ legen stark zu
Aus der Menge der Daten stechen einige Staaten heraus – darunter auch Deutschland und Österreich. In der Bundesrepublik hat die AfD ihre Umfragewerte im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 nahezu verdoppelt, auch wenn der Umfrage-Höhenflug zuletzt abriss. In Österreich hat die FPÖ ähnlich stark zugelegt: von 16,2 Prozent bei den Nationalratswahlen 2019 auf rund 27 Prozent in den Umfragen des Februar 2024. Das sind gleichwohl weder die größten Zuwachsraten in der EU, noch die höchsten absoluten Werte für rechtspopulistische Parteien.
Zweistellige Zuwächse seit den jeweils jüngsten Parlamentswahlen verzeichneten Rechtspopulisten und -extremisten unter anderem in Österreich (FPÖ, + 10,8 Prozentpunkte) und Frankreich (Rassemblement National und Reconquete, + 10,1). Die AfD ist erst jüngst wieder etwas abgefallen; bis dahin lag ausgerechnet Deutschland weit vorne in der rechtspopulistischen Umfrage-Rallye. Aber auch in Rumänien (AUR) und Zypern (ELAM) gibt es zweistellige Zugewinne für Rechts. In Rumänien steht 2024 eine Wahl an. In Portugal könnte sich die hart rechte Chega! bei der vorgezogenen Neuwahl im März mehr als verdoppeln.
Rechtspopulisten und -extremisten dominieren in Ungarn – hohe Werte auch in Polen, Belgien und Italien
Den höchsten Gesamtanteil an Umfragestimmen für rechtspopulistische und -extremistische Parteien gibt es weiterhin in Ungarn: 55,5 Prozent entfielen im Januar in einer Umfrage auf Viktor Orbáns Fidesz, ihren extremen Koalitionspartner Mi Hazánk und – bei den letzten Wahlen noch im Oppositionsbündnis vertreten – die nicht minder rechtsextreme Jobbik. Nur noch auf „Rang Vier” liegt das langjährige EU-Sorgenkind Polen mit 36 Umfrage-Prozent für PiS und die rechtsextreme Konfederaczja.
Teils enorm hohe Werte gibt es aber auch in West- und Südeuropa. In Belgiens Landesteil Flandern rangieren die rechtsradikale Partei Vlaams Belang (VB) und die flämisch-nationalistische N-VA wenige Monate vor der Parlamentswahl 2024 in den Umfragen zusammengerechnet bei 47 Prozent – wobei sich das Kräfteverhältnis seit der Wahl 2019 von der gemäßigteren N-VA zur extremen VB verschoben hat. Im südlichen Landesteil Wallonien spielen Rechtspopulisten hingegen kaum eine Rolle. Im komplexen belgischen Wahlsystem werden regional getrennten Umfragen erhoben. Am Ende könnten VB und N-VA aber Projektionen zufolge gut 30 Prozent der Sitze in der Abgeordnetenkammer erhalten.
Im Nachbarland Niederlande hat das Ringen um Regierungsmehrheit den Rechtspopulisten um Geert Wilders offenbar eher geholfen. Dort zeigte im Januar eine Umfrage 35 Prozent für vier Parteien. Bereits das (damals noch etwas niedrigere) Wahlergebnis habe eine gefährliche Verquickung zwischen Rechtsextremisten und Radikalislamisten gezeigt, warnte zuletzt Armin Laschet (CDU) bei FR.de von IPPEN.MEDIA.
In Italien kamen Giorgia Melonis Fratelli d’Italia und Matteo Salvinis Lega jüngst zusammen auf rund 38 Prozent. Auch das ist ein Zuwachs gegenüber dem Wahlergebnis 2020 – wenn auch ein Verlust gegenüber Umfrage-Daten von Ende 2023. Trotz Regierungsbeteiligung. Oder gerade deswegen?
Rechtspopulisten mit an der Regierung? Kein Mittel gegen Zuwächse
Die These, eine Regierungsbeteiligung schade rechtsextremen Parteien, sei „sehr schwer zu vertreten“, sagt Borbáth. Einige Parteien hätten ihre Regierungsposition genutzt, um „politische Erfolge“ im Sinne ihrer Programme zu erzielen: „Man denke zum Beispiel an die Justizreformen in Polen, die Anti-LGBTQI-Gesetze in Italien oder in Ungarn.“ Wichtig sei es, ob die Parteien führende Koalitionspartner sind, wie in Italien oder Ungarn – oder ob es „andere Regierungspartner gibt, die den rechtsextremen Einfluss abschwächen“, wie etwa in der vorangegangenen Legislatur mit der ÖVP-FPÖ-Koalition in Österreich. Dort stolperte die FPÖ allerdings auch über hausgemachte Skandale.
Rechtspopulismus – Definition und Datenbasis
Welche Parteien sind rechtspopulistisch, welche rechtsextrem? Eine einfache Antwort quer über die EU-Länder hinweg ist schwierig zu geben. Basis der vorliegenden Visualisierungen und Vergleiche ist daher die jüngste „PopuList” aus dem September 2023. Populismusforscher mehrerer europäischer Universitäten haben in diesem Projekt seit 1989 Parteien der EU-Staaten den Kategorien „extrem links“, „extrem-links populistisch“, „populistisch“, „extrem-rechts populistisch“ und „extrem-rechts“ zugeordnet. In den Karten und Auswertungen sind Parteien der Kategorien „extrem-rechts populistisch“ und „extrem-rechts“ enthalten, inklusive „Grenzfällen“.
Eine theoretische Basis dieser Zuordnung ist die Rechtspopulismus-Definition des Niederländers Cas Mudde. Politologe Endre Borbáth erklärt die gängige Einordnung wie folgt: Rechtspopulistische Parteien kombinierten Nativismus und Populismus. „Der Nativismus vertritt die Auffassung, dass Staaten ausschließlich von Angehörigen der einheimischen Gruppe (‚der Nation‘) bewohnt werden sollten und dass nicht einheimische Menschen und Ideen eine grundlegende Bedrohung für den homogenen Nationalstaat darstellen. Der Populismus verbindet einen Appell an das Volk (oft sehr offen gehalten) mit Anti-Elitismus.“
Gleichwohl seien nicht alle rechtspopulistischen Parteien auch rechtsextrem. Rechtsextremisten lehnten zudem das politische System ab und stellten oft die Demokratie infrage.
Für die Umfragendaten hat IPPEN.MEDIA aktuelle Medienberichte aus den EU-Ländern und weiteren Staaten wie Großbritannien, Norwegen, Island und Schweiz ausgewertet. Die meisten Zahlen stammen aus den Monaten Januar und Februar. Wo es in diesem Zeitraum keine validen Umfragen gab, wurde auf die jeweils aktuellsten Daten aus dem Jahr 2023 zurückgegriffen. Für die Schweiz und Luxemburg lagen nach den jüngsten Wahlen noch keine Umfragedaten vor.
Rechtspopulismus in der EU: Große Parteien „normalisieren“ „rechtsextreme Herausforderer“
Die Suche nach den Gründen für den vielerorts zu beobachtenden Zuspruch scheint einigermaßen komplex. Einige lassen sich aber benennen. „Die etablierten Parteien haben Schwierigkeiten, programmatische Entscheidungen zu treffen, um auf die Herausforderungen der Masseneinwanderung, der europäischen Integration und des Klimawandels zu reagieren“, urteilt Borbáth. Damit ließen sie eine „Repräsentationslücke im Parteiensystem“, sagt der Wissenschaftler der FU Berlin.
Welche der „Herausfordererparteien“ überleben, hänge auch von der Reaktion der etablierten Parteien ab. „Traditionell gab es einen Cordon sanitaire, eine Isolation im Parteiensystem und insbesondere bei der Regierungsbildung“, sagt Borbáth. „Heutzutage schwächt sich dieses Stigma in vielen Ländern ab, und indem einige Mainstream-Parteien ihre Argumente aufgreifen, normalisieren sie letztlich das Programm der rechtsextremen Herausforderer“. Die Warnung des Wissenschaftlers: „Dies führt zu einem weiteren Erstarken der rechtsextremen Parteien.“
Immun sind auch die nordischen Länder und das Baltikum nicht. In Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland liegen mehr oder minder stark rechtspopulistische Parlamentsparteien kumuliert jeweils mindestens bei knapp 15 Prozent. Spitzenreiter ist dabei die Sverigedemokrater als „Duldende“ der konservativen Regierung in Stockholm mit 22,5 Prozent. In Estland rangiert die teils rechtsextreme EKRE bei knapp 19 Prozent, in Lettland die Nationale Allianz bei rund 13 Prozent.
Keine hart Rechten in drei kleineren Ländern – aus der Schweiz fehlen Umfragedaten
Nur Litauen entzieht sich dem Trend. Das Land ist betont gemäßigt unterwegs – mit der LVŽS hat es aber eine als „links“ auftretende populistische Ex-Regierungspartei. Ein weiterer heller Fleck auf der Datenkarte ist die Slowakei. Auch hier ist aber Vorsicht geboten: Dort ist die Smer von Robert Fico mit 22,9 Prozent bei den jüngsten Wahl sogar stärkste Kraft. Smer vertritt nach Einschätzung der „PopuList“-Macher „nationalistische Elemente“, ist zudem klar populistisch gesinnt – mit einem eher pro-europäischem Kurs aber keine klassisch rechtspopulistische Kraft.
Weitere Ausnahmen gibt es: So sind weder auf Island noch in Irland Rechtspopulisten oder -extremisten in den Parlamenten vertreten. Andere graue Flächen auf der Karte täuschen allerdings ebenfalls: Aus der Schweiz und Luxemburg liegen nach den jüngsten Wahlen noch keine neuen Umfragen vor. Die Schweiz wäre wohl relativ tiefblau gefärbt, lägen Daten vor: Die rechtspopulistische SVP ist dort mit 27,9 Prozent die stärkste Kraft im Nationalrat.
Warum aber die regionalen Unterschiede? Mögliche Faktoren seien etwa die „Geschichte der rechtsextremen Mobilisierung“, das „Vorhandensein rechtsextremer ‚zivilgesellschaftlicher‘ Bewegungen“ oder eben die „Art und Weise, wie die etablierten Parteien rechtsextreme Themen integrieren“, erklärt Borbáth. Er verweist auf das Beispiel Rumänien: Dort hätten Sozial- und Liberaldemokraten lange Zeit „Wähler mit rechtsextremen Einstellungen angesprochen“. Seit der großen Koalition beider Parteien erziele die rechtsextreme AUR hohe Umfragewerte. Die Corona-Krise habe diese Dynamik noch verstärkt.
Europa steht vor Rechtspopulismus-Problem: Sonderfall „Mainstreamisierung“ in Ex-Jugoslawien
Eine Parlamentswahl steht 2024 auch im EU-Land Kroatien an. Die auf der „PopuList“ vertretene DP steht in Umfragen bei weit unter zehn Prozent. Doch die Lage in den Staaten des früheren Jugoslawien ist etwas komplexer, wie der Wiener Politikwissenschaftler Vedran Džihić IPPEN.MEDIA erklärt. „Die Entwicklung in Südosteuropa entzieht sich etwas der im Westen gängigen Definition“, meint er. Vielmehr gebe es große (Regierungs-)Parteien, die eine „Mainstreamisierung“ rechtspopulistischen Gedankengutes betrieben.
Dazu gehörten Alexandar Vučićs SNS in Serbien oder die SNSD der bosnischen Serben um Milorad Dodik in Bosnien-Herzegowina. Oder eben auch HDZ in Kroatien. Präsident Andrej Plenković sei „kein Rechtspopulist“, stellt Džihić klar. Die HDZ aber habe schon unter Gründer Franjo Tudjman den rechten Rand zu „inkorporieren“ versucht – die Partei vertrete teils nationalistische und revisionistische Standpunkte, positioniere sich „gegen Islam, Ausländer und Serben“. Auch ein rückwärtsgewandtes Frauenbild gehöre zum Partei-Mainstream. Die HDZ stand zuletzt bei gut 28 Prozent. Und Vučićs SNS hat im Dezember die Serbien-Wahl hoch gewonnen, wenn auch unter Betrugsvorwürfen.
Die EU könnte also vor einem massiven Problem stehen. Auch, aber nicht nur bei der Europawahl. Und nicht nur in ihren Mitgliedsstaaten, sondern auch bei einigen Beitrittskandidaten. Das gelte vor allem, wenn man europäische Integration nicht nur als verstärkte Zusammenarbeit, sondern auch als Schaffung föderaler politischer Institutionen verstehe, betont Borbáth. „Diese Auffassung wird von allen rechtspopulistischen Parteien ganz klar abgelehnt.“