Clemens Binder, Forscher am Österreichischen Institut für Internationale Politik und DOC-Stipendiat der ÖAW, analysiert in seinem Gastbeitrag den EU-Migrationspakt.
Es hätte der große Wurf in der Migrationsthematik werden sollen – vergangenen Mittwoch präsentierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemeinsam mit den beiden zuständigen Kommissionsmitgliedern Ylva Johansson und Margaritis Schinas den Europäischen Asyl- und Migrationspakt, der die europäische Migrationspolitik der nächsten Jahre vorgeben soll. Insbesondere zielen die in dem Pakt vorgestellten Maßnahmen darauf ab, die dauerhafte Krise – die im Geflüchtetenlager Moria wieder sichtbar wurde – im Migrationsbereich zu beenden. Allerdings wurde unmittelbar nach der Veröffentlichung Kritik laut, dass der Pakt in vielen Bereichen mutlos sei, bestehende Probleme verstärke und insbesondere rechtspopulistischen Antimigrationspolitikern entgegenkomme. Diese kritisieren den Pakt wiederum dafür, dass er nicht weit genug gehe und weiterhin auf Migrationskontrolle anstatt -verhinderung setze.
Tatsächlich ist der Migrationspakt weit davon entfernt, ein großer Wurf zu sein. Zwar sind durchaus einige ambitionierte Elemente, beispielsweise in der Seenotrettung oder in der Reform des Asylsystems, erkennbar, die allerdings oftmals in ihrer Umsetzung schwammig bleiben und durchaus negative Effekte mit sich bringen können. Sonst finden sich in dem Pakt vor allem zwei Arten von Maßnahmen. Erstens migrationspolitische Konstanten, die sich bislang als mäßig effektiv erwiesen haben, beispielsweise die Stärkung der Grenzschutzagentur Frontex und die Kooperation mit Drittstaaten. Zweitens enthält der Pakt hochproblematische Maßnahmen, vor allem die als "Solidaritätsmechanismus" bezeichnete Praxis der "gesponserten Rückführungen", mit welchen sich Staaten von der Aufnahme von Geflüchteten quasi freikaufen können und welche eine gemeinsame Migrationspolitik deutlich erschweren.
Unausgegorenes Programm
Es scheint, als wollte die Kommission einen Kompromiss versuchen, um alle Mitgliedsstaaten zufriedenzustellen, das Resultat ist jedoch ein unausgegorenes Programm. Illustriert wird das anhand eines zentralen Aspektes des Migrationspaktes: die Beschleunigung von Asylverfahren und die Einführung eines gesamteuropäischen Asylsystems mit einer europäischen Asylagentur, gleichen Richtlinien und Bewertungskriterien für Asylverfahren. Grundsätzlich könnte ein solches System die Situation sowohl für Migranten und Geflüchtete als auch für die Staaten an der Außengrenze, welche den größten Anteil der Erstaufnahme leisten, verbessern. Allerdings lässt die geplante Umsetzung befürchten, dass wohl beide Verbesserungen nicht eintreten werden. Das System aus Screenings vor Eintritt in die EU und schnellen Kontrollen hinsichtlich der Asylberechtigung direkt an der Außengrenze soll die nationalen und europäischen Asylsysteme entlasten und effizienter machen.
In der Realität stellt sich dieses System als deutlich schwieriger dar, da es oftmals unmöglich ist, in einem Schnellverfahren zu entscheiden, ob Asylberechtigung besteht oder nicht. Außerdem wird durch die Erstkontrollen an den Außengrenzen die Aufgabenlast von Staaten wie Griechenland oder Italien nicht geringer, auch weil das Dublin-System in reformierter Form bestehen bleibt. Damit bleibt die Situation an den Außengrenzen, auf Lesbos oder Lampedusa, wohl auch in Zukunft angespannt und für Geflüchtete katastrophal.
Während man auf der Basis solcher Vorschläge wie dem gemeinsamen Asylsystem jedoch durchaus zielführende Lösungen erarbeiten könnte, ist der sogenannte "Solidaritätsmechanismus" eine Maßnahme, die höchst kritisch zu betrachten ist. Dieser Mechanismus stellt Staaten vor die Auswahl, sich anhand von Quoten entweder an der Aufnahme von Asylwerbenden zu beteiligen oder stattdessen andere Staaten bei Rückführungen zu unterstützen ("sponsored returns"). Dadurch wird ein kollektives, europäisches Asylsystem faktisch ad absurdum geführt, nationalistische Politiker können sich nicht nur damit rühmen, keine Geflüchteten aufzunehmen, sondern auch damit, sich zusätzlich aktiv an Abschiebungen zu beteiligen.
Nicht solidarisch
Werden Quoten durch Abschiebungen erfüllt, bleiben Probleme der Versorgung von Geflüchteten an den Staaten an der Außengrenze hängen – dieses System ist vieles, aber nicht solidarisch. Gepaart mit dem Krisenmechanismus, der in Drucksituationen (wie beispielsweise Anfang März an der griechisch-türkischen Grenze) außerordentliche Maßnahmen ermöglichen soll, kann dieses System katastrophale Folgen für die Lage von Geflüchteten an der Außengrenze haben.
An diesem "Solidaritätsmechanismus" zeigt sich, dass die Kommission mit diesem Pakt auf Antimigrationspolitiker in den Mitgliedsstaaten zugehen wollte, das Konzept der "flexiblen Solidarität" hat Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bereits Anfang September vorgeschlagen. Zwar wurde im Gegenzug versucht, in anderen Bereichen wie den Asylverfahren oder der Seenotrettung eine europäische Lösung zu finden, die Ansätze sind jedoch politisch schwer durchführbar und werden auch im Rat nicht auf ungeteilte Akzeptanz der Regierungschefs stoßen – weswegen sie wohl weiter abgeschwächt werden.
Was als ambitioniertes Programm für eine gesamteuropäische Migrationspolitik geplant war, ist aufgrund der mutlosen und problematischen Maßnahmen zu einem schwachen Pakt verkommen. Selbst die wenigen guten Punkte werden durch ihre Umsetzung konterkariert, und es ist zu befürchten, dass Teile davon niemals umgesetzt werden. Der oft erwähnte und auch dringend benötigte Paradigmenwechsel der Migrationspolitik der Europäischen Union wird mit diesem Pakt weiter auf sich warten lassen. (Clemens Binder, 30.9.2020)