Gefährliche Grenzerfahrungen für den Balkan und die EU

Gefährliche Grenzerfahrungen für den Balkan und die EU

Vedran Džihić
Senior Researcher

Wiener Zeitung
19. Mai 2021

Die Idee der ethnischen Neuaufteilung der Region, für die keiner die Autorenschaft übernehmen möchte, steht plötzlich wieder auf der Agenda.

In den kommenden Wochen wird wieder an den kurzen Krieg in Slowenien, die Kriegsverbrechen und das Leid im kroatischen Vukovar und die Granatenangriffe auf Dubrovnik erinnert werden. Nächstes Jahr sind es dann 30 Jahre nach dem Beginn des Krieges in Bosnien und Herzegowina, der durch massive ethnische Säuberungen und den Völkermord in Srebrenica gekennzeichnet war. In all diesen jugoslawischen Staatszerfallskriegen, bis hin zu jenem in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im Kosovo, wurde erneut deutlich, wie folgenschwer nationalistische Exzesse und der Wunsch nach ethnisch separierten Territorien enden können. "Nie wieder!", rief man daher in ganz Europa und bot den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens und Albanien eine friedliche und demokratische Alternative zu Nationalismus und autoritärer Herrschaft an: die Integration in die Europäische Union.

Heute brodelt es am Westbalkan gehörig. Die EU ist nicht mehr jene, die sie noch zu Beginn der 2000er Jahre war. Sie scheint stark mit sich selbst beschäftigt, Partikularinteressen stehen im Vordergrund, und so manche Mitgliedstaaten frönen offen der "illiberalen Demokratie" und einer vermeintlichen nationalen "Wiederauferstehung". Das Versprechen der Europäisierung des Westbalkans verblasst, der europäische Enthusiasmus in der Region ist pragmatischem Realismus gewichen. Gleichzeitig gewinnt die geopolitische Konkurrenz, allen voran Autokratien wie China und Russland, an Boden. Ihr Einfluss ist Teil der heutigen Realität am Westbalkan. In dieser schon grundsätzlich schwierigen Konstellation und inmitten einer weltweiten Pandemie tauchen nun reihenweise "Non-Papers" auf, in denen über die territoriale und ethnische Neuaufteilung des Balkans sinniert wird. Zuletzt war es ein informelles – aller Voraussicht nach slowenisches – Diskussionspapier, das die Wogen hochgehen ließ.

Gezielt gestreute Grenzziehungsfantasien sorgen nicht nur in den meisten EU-Staaten für einigermaßen viel Unmut, sondern sind allen voran eines: ein offener Angriff auf all jene Prinzipien, denen sich die EU verschrieben hat. Sie sind schlichtweg ein Spiel mit dem Feuer, denn wenngleich man um rasche Distanzierung bemüht war, ist diese Katze damit aus dem Sack, und die Idee der ethnischen Neuaufteilung der Region, für die keiner die Autorenschaft übernehmen möchte, steht plötzlich wieder auf der Agenda. Wie fragil es um die politische Situation in der Region bestellt ist, zeigen die Reaktionen. Jeder Versuch einer auf ethnischen Prinzipien basierenden Neuaufteilung des Balkans und Einflussnahme von außen in territoriale Integritätsfragen kommt – positiv ausgelegt – einer besonderen Fehlleistung oder – realistisch gelesen – einem gefährlichen politischen Versuchsballon gleich.

Teufelskreis an nationalistischer Kernschmelze verhindern

Nationalisten in Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina oder in albanisch besiedelten Gebieten des Balkans finden darin reizvolle Alternativen zum politischen Status quo. Den Teufelskreis an nationalistischer Kernschmelze gilt es jedoch zu verhindern. Probleme gehören gelöst, jedoch nicht durch eine Rückkehr zu ethnischem Separatismus, sondern indem regionale Zusammenarbeit und Verständnis füreinander forciert werden. Die raison d’être des europäischen Integrationsprozesses ist es, aus der Vergangenheit zu lernen und Nationalismus zu überwinden. Die europäische Zusammenarbeit ist dabei stets work-in-progress und eine Suche nach Kompromissen. Lange Verhandlungen werden mit dem Ziel geführt, viele unterschiedliche Interessen unter einen Hut zu bringen. Denselben Ansatz braucht es für die gegenseitige Anerkennung, die Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen und regionale Integrationsschritte auf dem Westbalkan.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind gefordert, entschieden gegen jede populistisch-nationalistische Ankündigung neuer Grenzziehungen aufzutreten. Die gewalttätigen Schatten der Vergangenheit müssten durch auf Kooperation ausgerichtete Politik überwunden werden. Die solidarische Lieferung von 650.000 Impfdosen der EU ist ein erster Schritt in diese Richtung und kommt keine Minute zu früh, denn China und Russland sind längst vor Ort. Die EU muss am Westbalkan aber vor allem die Reform- und Erweiterungspolitik wiederbeleben, bei großen offenen politischen Fragen, wie in Bosnien und Herzegowina oder zwischen Serbien und dem Kosovo, unmissverständlich und offensiv das Tempo vorgeben.

Die Region braucht zudem dringend noch einen weiteren Impfstoff, der schon lange in der EU aber auch in zahlreichen zivilgesellschaftlichen und progressiven Kreisen am Westbalkan selbst erhältlich ist: jenen mit demokratischen und emanzipatorischen Zutaten, der dabei hilft, die Menschen am Balkan gegen den in Krisenzeiten besonders stark wütenden Nationalismus und autoritäre Versuchungen zu immunisieren.

Demokratie und multiethnische Vielfalt sind die Basis des europäischen Lebensmodells, in dem nationalistische Entwicklungen keinen Platz mehr haben dürfen. In diesem Sinne sollten die EU-Länder ihre Nachbarn gerade auch in prekären Zeiten nicht sich selbst überlassen. Die Geister des Nationalismus und des Autoritarismus haben in unserer Gegenwart und Zukunft nichts verloren, nicht am Westbalkan und auch nicht innerhalb der EU. Ganz im Gegenteil: Sie gehören ein für alle Mal auf den Müllhalden der Geschichte entsorgt.