Das Fiasko der Erinnerungspolitik auf dem Balkan

Das Fiasko der Erinnerungspolitik auf dem Balkan

Vedran Džihić
Senior Researcher

Das Fiasko der Erinnerungspolitik auf dem Balkan
Kommentar der anderen in "Der Standard" von Vedran Dzihic
10. August 2023

In Prijedor wurde der serbischen Opfer des Krieges in Kroatien gedacht. Schon der Ort war eine Provokation. Purer machtorientierter Nationalismus bestimmt die Gedenkkultur in der Region.
Es gibt nichts Gefährlicheres

In seinem Gastkommentar warnt der Politikwissenschafter Vedran Džihić vor dem Nationalismus auf dem Balkan. Das Ereignis in Prijedor sieht er als jüngstes Beispiel des Versagens bei der Vergangenheitsaufarbeitung.

Die Realität ist manchmal makabrer und abscheulicher als jede noch so abstruse Fantasie. Die Stadt Prijedor, meine Heimatstadt, war im Bosnienkrieg der 1990er-Jahre das erste Exerzierfeld der Politik ethnischer Säuberungen, organisiert und exekutiert von der Kriegsführung der bosnischen Serben mit verurteilten Kriegsverbrechern Radovan Karadž ić und Ratko Mladić an der Spitze. Im Sommer 1992 wurden mehr als 3000 Bosniakinnen und Bosniaken und Kroatinnen und Kroaten in der Stadt und ihrer Umgebung getötet, in drei berühmt-berüchtigten Konzentrationslagern, Keraterm, Trnopolje und Omarska, eingesperrt oder zu Tausenden vertrieben.

Unterschiedliche Versionen

Just Prijedor wurde von der neuen weltlich-religiösen serbischen Dreifaltigkeit – dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, dem Präsidenten der Republika Srpska, Milorad Dodik, und dem Patriarchen der serbisch-orthodoxen Kirche, Porfirije – zum Ort der alljährlich wiederkehrenden Gedenkveranstaltung in Erinnerung an – so der offizielle serbische Diskurs – die "größte ethnische Säuberung seit dem Zweiten Weltkrieg" in der serbischen Krajina auserkoren. Im August 1995 führte das kroatische Militär die großangelegte Offensive "Oluja" ("Sturm") zur – so der kroatische Diskurs – Befreiung der serbisch besetzten Gebiete Kroatiens durch.

Die kroatische Staatsspitze feierte nur einen Tag danach in einem großen patriotischen Akt den "größten Sieg" des kroatischen Volkes und des damaligen Staatspräsidenten, des autoritär regierenden Nationalisten Franjo Tuđman. Der kroatische Ministerpräsident Andrej Plenković sandte die Nachricht an Vučić und Dodik, dass "Oluja" das Fundament der kroatischen Freiheit sei. Wohlgemerkt, weder Plenković noch der kroatische Präsident Zoran Milanović fanden richtige Worte für die Verbrechen, die die kroatische Armee in und nach der Militäroperation verübte und denen mehr als 600 Serbinnen und Serben zum Opfer fielen.

Was man hier sehen kann, sind wohl unterschiedliche und einander ausschließende Versionen der Freiheit. Während die kroatische Version der Freiheit zum staatstragenden Fundament erklärt wird, mutierte die serbische in Prijedor zum großen Nationalpathos.

Pathetische Rede

"Es gibt nichts Wichtigeres als die Freiheit! Wir passen auf diese Freiheit auf, wir passen aus Serbien und Republika Srpska auf. Serbien ist nicht irgendwo in weiter Ferne, es ist in euren und unseren Herzen." Wenn der serbische Präsident Vučić am Ende seiner Rede in Prijedor zu diesem pathetischen Finale ansetzt und mit lauter Stimme das Hohelied an die Freiheit anstimmt, flimmern im Hintergrund auf einer großen Leinwand die Bilder von vermeintlichen serbischen Flüchtlingen aus Kroatien, von einer Mutter mit ihrem Baby im Arm.

Die nunmehr dritte Ausgabe von Artupunktura setzt ihre Mission fort, während des Oktobers und Novembers 2023 Kunst in öffentliche Räume, Gemeinschaften und verschiedene Aspekte natürlicher, urbaner und kultureller Ökosysteme in Zagreb zu bringen.

Wie sich nur Stunden später herausstellen sollte, ist diese Mutter die Bosniakin Sabina Mujkić und das Baby in ihrem Arm ihre Tochter Nermina, die nach der Eroberung der bosnischen Enklave Žepa im Juli 1995 von Mladićs serbischer Soldateska in die Flucht getrieben wurden.

Die gesamte Inszenierung der Erinnerung an die serbischen Opfer und der Fürsorge für das serbische Volk in Prijedor verkam endgültig zu einer Farce. Diese Farce ist aber eine mit Methode und klarem politischem Zweck. "Fond za humanitarno pravo", jene Institution in Serbien, die sich der Suche nach Daten und Fakten zu den Kriegen der 1990er-Jahre verschrieben hat und sich unermüdlich für alle Opfer einsetzt, betonte, dass bis heute kein einziges Opfer der kroatischen Offensive den offiziellen Status des zivilen Opfers in Serbien genießt. So sind all die Geflüchteten aus Kroatien, die man in Prijedor gut – besser gesagt schlecht – inszeniert beweinte, bis heute ohne jegliche finanzielle, medizinische und psychosoziale Unterstützung in Serbien geblieben. So viel zur nationalen Fürsorge für reale Opfer der kroatischen Aktion "Oluja".

Politische Inszenierung

Es ist offensichtlich: In Prijedor ging es um puren machtorientierten Nationalismus. Mit dem Nationalpathos will Dodik von der verheerenden Regierungsbilanz in seiner Republika Srpska ablenken, die sich am Rande des Bankrotts befindet und die junge Serbinnen und Serben in Scharen Richtung Deutschland oder Österreich verlassen, wo sie sich schlicht ein besseres und normaleres Leben erwarten. Auch die Inszenierung von Vučić als Vater aller Serbinnen und Serben und seine Dauersuada vom stolzen Serbien, das von allen angegriffen und angefeindet wird und nur von ihm, dem größten Serben aller Zeiten, heldenhaft verteidigt wird, dienen der politischen Mobilisierung für das Projekt Serbien nach seinem Maß und dem seiner Machtclique.

"Man verwischt die historischen Fakten und gräbt selektiv in der Vergangenheit herum."

Das Ereignis in Prijedor steht stellvertretend für ein eklatantes Versagen der Vergangenheitsaufarbeitung auf dem Balkan. Das Rechnen und Gegenrechnen der Opfer, das Lizitieren der Toten, die offiziellen Erinnerungspolitiken in der Region sind meilenweit von jeglicher Pietät für die Opfer entfernt. Man verwischt die historischen Fakten und gräbt selektiv in der Vergangenheit herum. Das so entstehende Lügengebäude soll zu einer neuen, politisch opportunen Wahrheit stilisiert werden, nach der nur das eigene Volk gelitten und Opfer gebracht hat, die anderen stets nur Böses im Schilde führten.

Verheerende Folgen

Die Historikerin und Philosophin Hannah Arendt erinnerte uns in ihrer Schrift Politik und Lüge, welch verheerende Folgen entstehen können, wenn "Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktion ersetzt werden". "Das Resultat ist keineswegs", schreibt Arendt, "dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird."

Es gibt nichts Gefährlicheres als jenen gesellschaftlichen Zustand, in dem ebendieser menschliche Orientierungssinn für die Fakten und Wirklichkeit politisch systematisch vernichtet wird. Dieser ebnet den Weg in die Konflikte. Das zeigt auch die Putin’sche Totalfiktion von einer nichtexistenten ukrainischen Nation, die es auszulöschen gilt. Getragen von jahrelanger Propaganda gegen die Freiheit und den bösen Westen, führte uns dasgeradewegs in den brutalen russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine. Neuerliche nationalistische Exzesse und Konflikte auf dem Balkan wären verheerend für ganz Europa.