Nach Mladić-Urteil: Die Regisseure des Revisionismus

Nach Mladić-Urteil: Die Regisseure des Revisionismus

Vedran Džihić
Senior Researcher

Der Standard
Kommentar der anderen
10. Juni 2021

Der verurteilte Kriegsverbrecher wird auf dem Balkan weiterhin verherrlicht. Für die neuen Autokraten ist die Vergangenheit eine politische Spielwiese

In der Region gehe wertvolle Zeit verloren, um die Kriege aufzuarbeiten, sagt der Politologe Vedran Džihić. Kommenden Generationen werde dadurch ein Bärendienst erwiesen.

Im Film Quo Vadis, Aida, dem preisgekrönten Meisterwerk der bosnischen Filmregisseurin Jasmila Žbanić über den Genozid in Srebrenica, wird Ratko Mladić von einer Kamera des bosnisch-serbischen Militärs begleitet, die jeden Schritt der "heldenhaften Befreiung" der Stadt für Propagandazwecke dokumentieren sollte. In einer der eins zu eins der Realität nachgespielten Schlüsselszenen in dem Film blickt Mladić mit stolzgeschwellter Brust in die Kamera und kündigt unverblümt das nahende Morden an. Aus dem "serbischen Srebrenica", so Mladić, schenke er dem serbischen Volk die Stadt. Endlich sei der Moment gekommen, sich an den Türken – gemeint sind bosnische Muslime – zu rächen.

Nun ist die letzte Filmklappe für den Regisseur des Bösen und des Völkermords in Bosnien und Herzegowina geschlagen. Die erstinstanzliche Verurteilung des ehemaligen Militärchefs der bosnischen Serben wegen Völkermords in Srebrenica, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde bestätigt. Den Rest seines Lebens wird Mladić im Gefängnis verbringen. Bei der Verlesung des Urteils in Den Haag stand er still und geneigten Kopfes und zeigte kaum Reaktionen. So still und banal das Böse im Gerichtssaal aussah, so lautstark sind zugleich die Stimmen jener, die Mladić und seine Taten in der Heimat verherrlichen und für eigene politische Zwecke instrumentalisieren.

"Unser Held"

Noch bevor das Urteil verkündet wurde, organisierte man in Bratunac, der Nachbarstadt von Srebrenica, die Aufführung eines Films über Mladić, in dem seine Taten und Person verherrlicht werden. Am Tag der Urteilsverkündung schmückte man Brücken in der Hauptstadt der Republika Srpska, Banja Luka, mit einem Banner mit einer klaren Botschaft: "Wir akzeptieren die Urteile aus Den Haag nicht. Du bist der Stolz der Republika Srpska." Die regimenahen Boulevardmedien in Serbien erschienen mit unmissverständlichen Titelseiten: "Mladić bleibt für immer der serbische Held."

Die internationale Gerichtsbarkeit hat das getan, was getan werden musste und konnte. Was bleibt, ist ein fortdauernder Deutungskampf über die Kriege und Verbrechen der 1990er-Jahre in Ex-Jugoslawien. 30 Jahre nach ihrem Beginn wird politisch offener Geschichtsrevisionismus betrieben, Bemühungen zur Vergangenheitsaufarbeitung und Versöhnung stagnieren und neue Autokraten missbrauchen die Vergangenheit für ihre politischen Interessen.

Reaktionärer Revisionismus

Nach der Verkündung des Urteils gegen Mladić wurde sofort die Maschinerie der Leugnung der Verbrechen und deren politischen Instrumentalisierung angeworfen. Milorad Dodik, das notorische politische Gesicht der Republika Srpska der letzten zwei Jahrzehnte, setzte wenige Minuten nach dem Gerichtsspruch zur medienwirksamen Verkündung seiner eigenen Wahrheit an. Die internationale Gerichtsbarkeit existiere nicht und sei bloß Siegerjustiz, Serben würden verteufelt. "Genozid in Srebrenica gab es nicht", tönte er im revisionistisch-nationalistischen Stakkatostil seine und die "Wahrheit" des serbischen Volkes, das er damit in Geiselhaft nimmt.

Dodiks Reaktion muss man schlicht als das bezeichnen, was sie im Kern ist, nämlich reaktionärer Revisionismus und fast schon sektiererisches Leugnen des Genozids und der Kriegsverbrechen. Dodik ist nicht allein, ähnliche Stimmen sind auch immer wieder aus Serbien zu vernehmen. Auch wenn es am stärksten und lautesten von serbischen Politikern kommt, sind unterschiedliche Formen und Variationen des nationalistischen Revisionismus ein breiteres regionales Phänomen. Blind seien immer nur die anderen, Täter klarerweise auch, so der allgemeine Tenor in der Region.

Die Guten, die Bösen

Geschichtsrevisionismus ist zum Beispiel auch in Kroatien sehr stark, wo Verbrechen des Ustascha-Regimes im Zweiten Weltkrieg von rechtsextremen und nationalistischen Kreisen geleugnet werden. Mit Verbrechen der eigenen Seite fängt man in der gesamten Region wenig an, man kann das Eingeständnis der Schuld einfach nicht politisch ausschlachten. Viel besser funktioniert das selektive Herumgraben in der Geschichte, die Anrufung der homogenen "Volksgemeinschaft" und nationalistische Polarisierung nach dem Muster "Wir sind die Guten, die Bösen sind stets die anderen".

Das manipulative Spiel mit der Vergangenheit scheint zur Lieblingsbeschäftigung der neuen Regisseure des Revisionismus – der Despoten und der autoritären Machthaber auf dem Balkan – geworden zu sein. So wird weiterhin wertvolle Zeit verloren, um die Kriege aufzuarbeiten. Es bleiben politische und menschliche Gräben. In Bosnien wird die tiefe Kluft zwischen Serben, Bosniaken und Kroaten nur vertieft – und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die festgefrorenen "Wahrheiten" in neuen Konflikten entladen.

Der Opfermythos

Bei Mladić, der sich stets zum "Vertreter des serbischen Volkes" stilisiert hat, oder auch bei dem in der Region verbreiteten nationalistisch-populistischen Sprech im Namen der fiktiven Volksgemeinschaft muss man deutlich sagen: Nein, es steht und stand nie das ganze Volk auf der Anklagebank. Und auch wenn offensichtlich die Mehrheit der serbischen Bevölkerung in der Republika Srpska und in Serbien dem Mythos von der Lüge von Srebrenica glaubt, gibt es auch ein anderes Serbien, das Verbrechen an bosnischen Muslimen oder auch kosovarischen Albanern im Krieg im Kosovo als das sieht, was sie sind – ein Schandfleck in der Geschichte Serbiens, für den Slobodan Milošević und seine Handlanger Verantwortung tragen. Wenn sich nun die aktuelle Führungsriege schützend vor das Milošević-Regime stellt und den Mythos vom Opferstatus der Serben reproduziert, dann erweisen sie kommenden Generationen der Serbinnen und Serben einen Bärendienst.

Bleiben der offene Geschichtsrevisionismus und die Leugnung der Verbrechen im gesellschaftlichen und politischen Diskurs der Länder des Balkans dominant, ist dies eine Niederlage für ganze Generationen. Und letztlich auch eine schwere für Europa und die Welt, die so kläglich in Srebrenica gescheitert sind. Im Revisionismus und der Leugnung der Verbrechen gibt es nichts Banales, er muss schlicht entschieden und mit allen Mitteln bekämpft werden. Europa und der Welt kommt da eine Rolle zu, der sie sich schon allein ihrer Vergangenheit, aber auch der Zukunft wegen nicht entziehen können.