Die Schengen-Saga: Österreich marschiert vorwärts in die Vergangenheit

Die Schengen-Saga: Österreich marschiert vorwärts in die Vergangenheit

Vedran Džihić
Senior Researcher

Der Standard
13. Dezember 2022
Kommentar der anderen von Vedran Dzihic

Die Schengen-Aufnahme von Rumänien und Bulgarien zu verhindern ist falsch und verhängnisvoll. Das Image Österreichs in der EU ist dank der populistischen Trotzhaltung der Regierung so für lange ruiniert

Österreich habe sich bezüglich der Schengen-Erweiterung falsch verhalten, sagt der Politikwissenschafter Vedran Džihić im Gastkommentar.

Der Philosoph Zygmunt Bauman veröffentlichte kurz vor seinem Tod ein großes Buch mit dem Titel "Retrotopia". "Retrotopien", so Bauman, sind Visionen, die sich nicht mehr aus einer noch ausstehenden oder möglichen Zukunft speisen, so wie es Utopien tun, sondern aus einer verlorenen, geraubten oder verwaisten Vergangenheit – aus einer "untoten Vergangenheit".

Die jüngste Schengen-Saga, inszeniert vom Bundeskanzler Karl Nehammer und seinem Innenminister Gerhard Karner, passt sehr gut in das Bild einer "Retrotopie". Die österreichische Regierung und allen voran die ÖVP scheinen eben den Problemen von heute mit den Lösungen von gestern beikommen zu wollen. Ist in den Augen der führenden Vertreter der ÖVP dieses Gestern noch jenes des jungen Altkanzlers Sebastian Kurz, der berühmterweise die "Westbalkanroute" schloss und mit einer im Kern rechten Migrationspolitik den Freiheitlichen das Wasser abgrub? Oder ist dieses Gestern jenes der eingeübten "Politik der Angst" und der Moralisierung der Migration und Integration in der alten Manier von Jörg Haider und den großkoalitionären Mitläufern, die sich in den 1900er-Jahren und fortan mit Strenge in der Ausländerfrage dem rechten Populismus der freiheitlichen Galionsfigur dieser Zeit entgegenstemmen wollten?

Eine Farce

Einmal vorweg: Die Schengen-Blockade ist eine Farce. An der Entscheidung der österreichischen Bundesregierung, den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien zu blockieren, ist nahezu alles falsch. Bulgarien und Rumänien sind schlicht nicht an hohen Asylwerberzahlen in Österreich schuld, dies belegen auch die Zahlen der EU-Grenzschutzagentur Frontex.

Falsch und verhängnisvoll ist diese Entscheidung vor allem auch im großen Konzert der EU-Politik. Wenn man schon von der österreichischen Seite Solidarität und empathisches Handeln auf der Ebene der EU vermisst, dann sollte man wenigstens in der Lage sein, mit rationalen und sachlichen Argumenten eine Politik zu betreiben, die Österreichs Interessen maximiert und nicht mit einer populistischen Trotzhaltung ruiniert.

Die EU basiert auf Prinzipien der Solidarität, des Vertrauens und der Verbindlichkeit zwischen Partnern. Damit das komplexe Gefüge funktioniert, muss man stets evidenzbasiert agieren. Mit der Schengen-Entscheidung hat man all diese Prinzipien verletzt. Die Zettelchen, auf denen "Österreich raus aus Rumänien – Austria afara din Romania!", die am Fenster einer Raiffeisen-Bank in Rumänien gesichtet wurden, werden am kommenden Tag leicht runtergekratzt werden können. Das schlechte Image, das sich Österreich mit diesem Alleingang als unzuverlässiger Partner auf der EU-Ebene eingehandelt hat, wird nicht so einfach verschwinden.

Aber noch einmal zum Narrativ, das hinter der Schengen-Blockade steckt – zu einer im Kern plumpen populistischen Erzählung, die auf binären Codes basiert: Wir sind die Guten, die unser Land schützen, dort drüben sind die Bösen, die uns Österreichern an den Kragen wollen und uns nicht verstehen. Nun sind die Rumänen und die Bulgaren die Bösen, sie sollen draußen vor den Toren von Schengen bleiben. Zu diesem Narrativ gehört auch dazu, dass man am Tag der Menschenrechte vom "Asyltourismus" und von Schutzsuchenden als "Sicherheitsrisiko" spricht – da schleicht sich auch noch ein Zynismus in den Diskurs hinein.

Die Versicherheitlichung, so der eher unschöne Wissenschaftsbegriff, die man in dieser Rhetorik unschwer sehen kann, macht aus Migrantinnen und Migranten sowie Schutzsuchenden ein Sicherheitsproblem per se, das es um jeden Preis abzuwehren gilt. Dabei scheint jedes Mittel recht zu sein – vom Errichten von Zäunen, einer Bewaffnung der Außengrenzen bis hin zu einem Diskurs, der sogar die zentralen Menschenrechtsmechanismen der EU infrage stellt (ÖVP-Klubchef August Wöginger). Das Problem sind immer die anderen, suggeriert man dadurch und entzieht sich damit nahezu reflexartig einer Suche nach der Lösung. Österreich verweigert sich auf der europäischen Ebene einem Verteilungsmechanismus für Schutzsuchende, denkt kaum über legale Migrationswege nach und reagiert dann trotzig mit einer Soloaktion.

Rigider Kleingeist

Interessant ist wohl auch, wer die österreichischen Partner sind, die diese Erzählung teilen. Die Partner der guten Österreicher, oder besser gesagt der guten österreichischen Bundesregierung mit dem Bundeskanzler an der Spitze, sind scheinbar vor allem die autoritär agierenden Despoten aus der Nachbarschaft, aus Ungarn und Serbien, die Herren Vučić und Orbán. Dass die beiden ihre Länder in die Top Ten der sich im letzten Jahrzehnt am stärksten autokratisierenden Staaten weltweit geführt haben, stört dabei nicht sehr. Und dass ausgerechnet das große Vorbild vieler Autokraten dieser Welt, der selbsternannte Ritter gegen Brüssel und der Kämpfer für die ungarische Retrotopie, Viktor Orbán, jener ist, der Migrantinnen und Migranten durchwinkt und das europäische Asylsystem desavouiert, scheint die österreichische politische Spitze kaum zu interessieren.

So sind wir nicht, hat uns der Bundespräsident Alexander Van der Bellen immer wieder in den letzten Jahren zurufen müssen. Der derzeitige politische Kurs und die Schengen-Blockade als Sinnbild davon scheinen aber doch der Widerhall des Teilen der österreichischen Politik innewohnenden Provinzialismus und des rigiden Kleingeistes zu sein. Auf diese Art und Weise, mit einer Politik der Angst vor dem anderen und vor dem Verlust einer Fiktion – einer reinen und homogenen Heimat, die längst nicht mehr oder nur in rechten Biotopen existiert –, wird man wohl mit großen Schritten den Weg vorwärts in die Vergangenheit fortsetzen.