Bosnien-Herzegowina: Willkommen im Land der Paradoxien

Bosnien-Herzegowina: Willkommen im Land der Paradoxien

Vedran Džihić
Senior Researcher

Der Standard / Kommentar der anderen von Vedran Dzihic
4. Oktober 2022

Die Wahlen haben gezeigt, dass ein anderer Kurs möglich wäre. Der Hohe Repräsentant Christian Schmidt irrlichtert weiter durchs Land

Der Sieg des Sozialdemokraten Denis Bećirović ist auch ein Sieg im Kampf gegen die Ethnopolitik und ein Gradmesser für eine neue Politik in diesem Land, sagt der Politikwissenschafter Vedran Džihic im Gastkommentar.

Bosnien und Herzegowina hat am Wochenende gewählt. Weltmeister in der Abhaltung von Wahlen sei das Land, scherzen Expertinnen und Experten gerne unter sich. Das Gefühl, dass sich das Land seit Jahren in einem permanenten Wahlkampf befindet, täuscht nicht – die bisher dominanten ethonationalistischen Parteien der Bosniaken, der Kroaten und der Serben setzen alles auf die Pflege der durch den Krieg entstandenen Angstlandschaften. Sie schauen genauso fleißig darauf, dass ihre Privilegien und Pfründe nicht gefährdet werden. Ethnopolitik nennt man diese Art des unermüdlichen rhetorischen Zündelns gegen die ethnisch jeweils anderen, die Nachbarn, während man eigene Parteien als klientelistische und korrupte Interessenverbände betreibt. Demokratie und die Funktionalität des Staates wollen sich so in all den Jahren seit Dayton nicht einstellen.

Der Wahlkampf hatte wieder einiges geboten – die Fortsetzung der Ethnopolitik und des rhetorischen Zündelns, Besuche von Milorad Dodik bei Wladimir Putin, großspurige Versprechen eines Wirtschaftsbooms, aber auch neue progressive Narrative von einem bürgerzentrierten Bosnien, das rasch den Weg der Integration in die EU und die Nato bestreiten soll. Der Wahltag und der Wahlabend selbst waren voller Paradoxien. In der Stadt Bijeljina erblindeten über Nacht 80 Bewohnerinnen wie Bewohner und tauchten im Wahllokal mit der Bestätigung der lokalen Amtsärztin auf, die ihnen Blindheit attestierte und damit die sehende Hilfe einer Begleitperson beim Ausfüllen des Wahlzettels ermöglichte. Die Stimme solle wohl auch von den Blinden "richtig" abgegeben werden.

Alles sauber?

Am Abend dann die paradoxe Situation in Banja Luka, der größten Stadt der kleineren Entität, Republika Srpska. Die Kandidatin der Opposition, Jelena Trivić, verkündete am späteren Abend ihren Sieg im Rennen um die Präsidentschaft der Republika Srpska. Knapp danach trat der prorussische starke Mann der bosnischen Serben, Milorad Dodik, vor die Kameras, und verkündete seinen Sieg. Am Montag sollte sich dann doch herausstellen, dass Dodik vermutlich noch einmal den Sieg einfahren konnte, wenn auch die Opposition von Wahlbetrug spricht. In der Geburtsstadt von Trivić soll keine einzige Person für die Oppositionskandidatin gestimmt haben, und da solle noch jemand daran glauben, dass der Sieg von Dodik sauber sei.

Wie dem auch sei, nach diesen Wahlen scheint alles gleich und doch ein wenig anders zu sein. Die drei großen ethnonationalen Parteien, SDA, HDZ und SNSD, konnten sich wieder im Rennen um die Parlamente des Gesamtstaates und der Entitäten durchsetzen. Sie werden wohl auf vielen Ebenen ihre Kooperation fortsetzen und Regierungen bilden. Die Macht und die Privilegien wollen sie ja nicht riskieren. In einigen Teilen des Landes, vor allem auch in der Föderation oder im Kanton Sarajevo, gab es starke Erfolge der bürgerorientierten und übernational agierenden Parteien, darunter auch der Sozialdemokraten und der links-grünen Bewegungen.

Starke Pluralisierung

Die größte Veränderung betrifft die dreiköpfige Präsidentschaft von Bosnien und Herzegowina. Hier konnte sich der gemeinsame Kandidat der oppositionellen Kräfte, der Sozialdemokrat Denis Bećirović, überraschend klar gegen den bislang starken Mann der bosniakischen SDA, Bakir Izetbegović, durchsetzen. Dies ist ein wichtiger Sieg im Kampf gegen die Ethnopolitik und ein Gradmesser für eine mögliche neue Politik in diesem Land. Dieser Sieg, gemeinsam mit dem Sieg des ebenso überethnisch agierenden Kroaten Željko Komšić, zeigt noch einmal, dass es vor allem bei den Bosniaken eine sehr starke Pluralisierung des politischen Spektrums gibt und der Wunsch nach einer Abkehr von Ethnopolitik und korrupten politischen Praktiken vorhanden ist. Bei den bosnischen Kroaten sieht es aber wiederum ganz anders aus – hier konnte sich die HDZ ohne Probleme durchsetzen und ihre Dominanz absichern.

Negativer Superstar

Damit sind wir beim unerwarteten negativen Superstar des Wahlabends angelangt, beim Hohen Repräsentanten der internationalen Staatengemeinschaft, bei Christian Schmidt. Ausgerechnet am Wahlabend beschloss er weitreichende Maßnahmen, die Veränderungen der Wahlgesetzgebung und der Verfassung der größeren Entität des Landes, der Föderation von Bosnien und Herzegowina, beinhalten. Der Zeitpunkt ist eine Anmaßung, denn mit dem Entscheid negiert Schmidt demonstrativ den Willen des Wahlvolks und verstärkt den Eindruck einer undemokratischen Entscheidungsfindung. Maßnahmen just dann zu verkünden, wo zum Teil eine Rekonfiguration der politischen Landschaft stattfindet, ist auch politisch falsch. Wenn am Ende die kroatische HDZ von den neuen Spielregeln profitiert, und danach sieht es aus, trägt dies nicht zu einem gerechteren und bürgerzentrierten politischen System bei. Auch die sehr verhaltene und im Kern kritische Reaktion der EU-Vertretung im Land zeigt, dass es im Westen keinen Konsens über den Schritt von Schmidt gibt. Keinen internationalen Konsens in so einer komplexen politischen Situation zu suchen ist schlicht nicht klug und taktvoll, sondern vor allem rechthaberisch und schädigend.

Harte Fakten

Während Schmidt durch Bosnien irrlichtert und die letzten Ergebnisse der Wahlen noch abgewartet werden, bleiben die harten Fakten, die die Prekarität des Landes illustrieren. In den letzten zehn Jahren hat eine Million Menschen das Land verlassen und damit indirekt mit ihren Füßen abgestimmt. Die hohen Preise für Lebensmittel und Energie nehmen der Mehrheit der Abgehängten und an der Armutsgrenze dahinvegetierenden Bürgerinnen und Bürger die Luft zum Atmen weg. Der prorussische Kurs von Dodik wird bleiben und damit auch das Damoklesschwert der Sezession, mit der Dodik nahezu reflexionsartig droht.

Paradoxerweise haben die letzten Wahlen aber auch gezeigt, dass der ethnopolitische Autopilot auch abgeschaltet werden kann und ein anderer Kurs denkbar ist. Aus Zorn und Verzweiflung an aktueller Politik entsteht die Lust an Sachthemen, von der Bećirović und einige bürgerorientierte Parteien punkten konnten. Auch neue Kampfeslust der vielen jungen Bewegungen soll nicht unterschätzt werden. Wenn die EU und der Westen doch noch zu einem Konsens in der Bosnien-Politik finden könnten, hätten sie im Land Partner, mit denen man neue Allianzen schmieden könnte. Die Hoffnung auf ein demokratisches, europäisches, normales Bosnien und Herzegowina, an eine Realutopie, hat seit dieser Wahl ein paar neue Ankerpunkte. (Vedran Džihic, 4.10.2022)