Ich sehe die Welt mit Aidas Augen: Die universelle Botschaft von „Quo vadis, Aida?“
Ich sehe die Welt mit Aidas Augen: Die universelle Botschaft von „Quo vadis, Aida?“
Falter 24/21
Das Auge ist ein Fenster in die Seele, sagt man im Volksmund. Im Zentrum des Films von Jasmila Žbanić, „Quo Vadis, Aida?“, stehen die Augen der Protagonistin, der Lehrerin Aida, die als Übersetzerin für die in der UN-Schutzzone Srebrenica stationierten niederländischen Soldaten arbeitet. Als im Juli 1995 die Stadt von der Soldateska des Generals und mittlerweile verurteilten Kriegsverbrechers Ratko Mladić eingenommen wird, nimmt der Völkermord, das schlimmste Verbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, seinen unheilvollen Lauf. Das Urteil gegen Mladić wurde vor wenigen Tagen bestätigt, rechtlich sind der Völkermord und die schweren Kriegsverbrechen bewiesen. Die Reaktionen auf das Urteil in der ganzen Region, die von Freude über die Entscheidung bis hin zum reaktionären Revisionismus reichen, zeigen aber, wie stark die Macht der nationalistischen politischen Mobilisierung ist und wie tief die Klu# zwischen den einzelnen Völkern. „Quo Vadis, Aida?“ richtet sich gegen das Vergessen und das Spiel mit Hass und Ängsten. Der Film spricht eine andere, universelle Sprache, die aus dem Schmerz heraus nach Wegen der Versöhnung sucht. „Quo Vadis, Aida?“ ist eine Skizze über das Menschliche und das Abscheuliche. Wenn Žbanić Szenen zeigt, in denen Mladić und seine Soldaten Süßigkeiten an Kinder und Brot an die ausgehungerten Menschen in der Fabrikshalle verteilen, denen sie Stunden später unerträgliches Leid zufügen werden, dann liefert sie damit eine Studie einer sadistischen Persönlichkeit. Wenn sie Aidas Augen zum Zentrum des Films macht, Augen, die suchen, die angsterfüllt dem Bösen entgegenblicken, die hoffen und Liebe zeigen, dann liefert sie eine Studie über das Menschsein.
Es ist ein Film über das Ausarten des Menschen in das Böse schlechthin und zugleich ein universeller Appell, niemals Empathie und Menschlichkeit zu verlieren. In einer Szene flüstert Aida ihrem Sohn zu, dass sie ihn liebt. Diese zärtliche Geste erinnerte mich an meine Großmutter, als sie mir als Bub, meinen Kopf in ihrem Schoß streichelnd, so oft zuflüsterte, dass immer alles gut sein würde und ich mir keine Sorgen machen solle. Sie wollte mich schützen vor der Welt und ich vertraute ihr. Aidas Flüstern hallt im Verlauf des Films nach, verliert sich und verschwindet in jenen Momenten, als ihr Ehemann und ihre Söhne zusammengepfercht mit Dutzenden anderen Männern in einer Kinohalle erschossen werden. Dies ist die einzige Szene im Film, in der das Töten indirekt gezeigt wird. Die Soldaten verschließen die Tore und rufen den todgeweihten bosniakischen Männern und Jugendlichen zu: „Gleich geht der Film für euch los.“ Die Kameraführung zeigt nur die Luken in der Wand, durch die Maschinengewehre der serbischen Soldaten durchgeschoben werden. Das Rattern des Maschinengewehrfeuers vertreibt die am örtlichen Spielplatz Fußball spielenden Kinder. Zurück bleibt nur die Stille.
Am Ende des Films kehrt Aida nach Srebrenica zurück. Sie wird wieder Lehrerin in der örtlichen Schule. Kinder führen auf der Bühne einen Tanz vor, lachen wie alle Kinder dieser Welt. Im Publikum freut sich auch jener serbische Kommandant, der im Film als Mladićs rechte Hand agiert, mit seiner Frau über die schöne Performance seines Sohnes. Auch bosniakische Rückkehrereltern sitzen im Publikum, auch sie freuen sich. Während ihres Au#ritts schließen und öffnen die Kinder ihre Augen mit den Händen. Žbanić gibt hier zu verstehen: Es gibt kein Entrinnen. Entsetzen und Leid bleiben. Die Aufführung geht weiter, das Leben der Kinder in Srebrenica will gelebt werden, die nächsten Generationen werden kommen. Die Hoffnung bleibt, dass ihnen Krieg und Leid erspart bleiben.
Als der Abspann lief, erinnerte ich mich wieder an Aidas leisen Worte an ihren Sohn: „Voli te mama“ – die Mama liebt dich. Aidas Flüstern verliert sich im Jenseits, vereint sich mit dem Flüstern der Mütter von Srebrenica, die ihre Söhne im Genozid verloren haben. Da waren auf einmal wieder die Augen meiner Großmutter und Mutter vor mir, die Augen aller Mütter, die mit diesen Worten ihren Kindern Trost und Sicherheit geben möchten. Aidas Augen werden zu den Augen der ganzen Welt.
VEDRAN DŽIHIĆ
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