Ein europäisches "Mare Nostrum"
Ein europäisches "Mare Nostrum"
Ein europäisches "Mare Nostrum"
KOMMENTAR DER ANDEREN
Clemens Binder
15. April 2020
In der Migrations- und Asylpolitik ist die EU tief zerstritten. Die Corona-Krise lähmt die Handlungsfähigkeit. Dabei braucht es Lösungen in der Seenotrettung
Im Gastkommentar fordert OIIP-Forscher Clemens Binder einen migrationspolitischen Paradigmenwechsel.
Eine der dauerhaften Krisen der EU flammte am Osterwochenende erneut auf – seit vergangenem Freitag berichten sowohl NGOs als auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex über vier vor Malta in Seenot geratene Boote, auf denen sich zahlreiche Geflüchtete befinden. Eines dieser Boote ist laut Berichten der NGO Alarmphone gesunken, die maltesische Regierung und Frontex stellen dem entgegen, es sei kein gesunkenes Schiff gefunden worden. Das Schiff Aita Mari der spanischen NGO SMH konnte 43 Menschen aus Seenot retten, darf nun allerdings nicht in Malta anlegen. Ein weiteres Schiff wurde Frontex zufolge an der Küste Siziliens gefunden.
Ähnliche Szenen spielten sich bereits Anfang vergangener Woche mit dem Schiff Alan Kurdi der NGO Sea-Eye ab – Italien verweigerte die Erlaubnis, an einem Hafen anzulegen. Sowohl Malta als auch Italien begründen dies mit der Corona-Krise und den gesundheitlichen Risiken. Für die Alan Kurdi gibt es mittlerweile Hoffnung – die Migrantinnen und Migranten dürfen auf ein Schiff der italienischen Küstenwache umsteigen und müssen dort 14 Tage in Quarantäne verbringen.
Humanitäres Scheitern
Es wäre jetzt für die EU einfach, die Verantwortung von sich zu weisen, Italien und Malta als die Schuldigen auszumachen und den NGOs die Problemlösung zu überlassen. Seenotrettung ist jedoch eine gesamteuropäische Herausforderung – daher ist jeder EU-Staat sowie die EU selbst gefragt, etwas zur Lösung dieser anhaltenden Krise beizutragen. Frontex berichtete zwar seit Freitag über die in Seenot geratenen Schiffe, Handlungen zur Rettung wurden allerdings nicht gesetzt. Das Mittelmeer ist durch das EU-Grenzüberwachungssystem Eurosur ein dicht überwachtes Gebiet, Eurosur soll laut Eigendefinition dazu beitragen, Seenotrettungen zu unterstützen. Warum bleiben konkrete Handlungen der EU dann aus?
Bevor die Corona-Krise Europa erfasste, spielten sich dramatische Szenen an der griechischen Außengrenze ab – durch die Aufkündigung des EU-Türkei-Deals standen 14.000 Geflüchtete an der griechisch-türkischen Grenze, und beide Seiten ließen die Situation auf Kosten der Geflüchteten eskalieren. Gleichzeitig schockierten uns Berichte aus den überfüllten griechischen Flüchtlingslagern. Durch Corona hat sich diese Lage jedoch verschlimmert. Mehrere NGOs wie Ärzte ohne Grenzen fordern eine Räumung dieser Lager, um einen tödlichen Ausbruch des Coronavirus zu verhindern. Auch hier manifestiert sich das humanitäre Scheitern der EU.
Keine Lösung
Die Lage an der griechisch-türkischen Grenze hat sich zwar etwas beruhigt, wenn auch keine Lösung erzielt wurde. Die Geschehnisse der letzten Tage zeigen jedoch, dass neben dem östlichen Mittelmeer und der Ägäis das zentrale Mittelmeer nach wie vor eine wichtige Rolle als Migrationsroute innehat. Auch hier braucht es Lösungen – diese Route galt laut der Internationalen Organisation für Migration zwischen 2016 und 2019 als eine der gefährlichsten Grenzregionen der Welt.
Dass es seit 2015 keine Lösung in der zentralen humanitären Frage der EU gab, ist alarmierend. Insbesondere deshalb, weil es Maßnahmen gäbe, um die Situation zumindest etwas zu entschärfen und für die Sicherheit der Migrantinnen und Migranten zu sorgen. Italien zeigte 2014 durch die Marineoperation Mare Nostrum, dass dezidiert humanitär ausgerichtete Operationen erfolgreich zur Rettung von Menschenleben beitragen und das Sterben im Mittelmeer beenden könnten. Mare Nostrum wurde jedoch eingestellt und durch Frontex-Operationen ersetzt, im Rahmen derer Seenotrettung lediglich eine untergeordnete Rolle spielt. Frontex hätte sowohl die Kapazitäten als auch – bedingt durch die zweimalige Ausweitung des Mandats der Agentur – die Kompetenzen, ein europäisches "Mare Nostrum" zu initiieren.
Kein Pull-Faktor
Verhindert wird das durch die Politik der Mitgliedsstaaten, die wenig Interesse haben, die humanitäre Krise zu entschärfen. Politikerinnen und Politiker bedienen sich dem wissenschaftlich nachweislich widerlegten Narrativ, dass Seenotrettung einen Pull-Faktor darstellt. NGOs, die in Seenot geratene Geflüchtete retten, werden kriminalisiert und dürfen in vielen Häfen Europas nicht anlegen. Wenn allerdings keine Schiffe von NGOs im Mittelmeer Seenotrettungen durchführen, tut es niemand mehr. Die Folgen wären schrecklich – denn die Migrationsbewegungen werden nicht aufhören, solange es Krieg und globale Ungleichheiten gibt.
Es brauchte also gar nicht zwingend weltbewegende Maßnahmen, um die Situation zumindest kurzfristig zu entschärfen – ein europäisches "Mare Nostrum" wäre der erste Schritt. Mittel- und langfristig braucht die europäische Migrationspolitik allerdings einen Paradigmenwechsel. Die EU hätte nach dem Jahr 2015 viele Chancen gehabt, eine moderne, humanitäre Grenz- und Migrationspolitik zu gestalten. Es wurden Mittel in diese Bereiche investiert – allerdings mit der Zielsetzung der Verhinderung von Migration.
Faire, schnelle Asylverfahren
Diese Zielsetzung hat nachweislich die Situation nicht verbessert. Es benötigt eine Neugestaltung des Systems, das die sichere Überquerung der Grenzen, die faire und schnelle Abwicklung von Asylverfahren und die Entlastung der Staaten an der Außengrenze in den Mittelpunkt stellt. Die Aufgabe der Seenotrettung muss von staatlichen Institutionen wie Küstenwachen übernommen werden und darf nicht auf ein paar NGOs lasten.
Dies würde allerdings den politischen Willen voraussetzen, der derzeit nicht erkennbar ist. Im Gegenteil, durch das Coronavirus rechtfertigen Staaten es jetzt mit gesundheitlichen Argumenten, ihre Grenzen zu schließen, und können das auch in Zukunft tun. Ohne massives Umdenken werden Gewalt und Tod an den EU-Außengrenzen jedoch noch lange traurige Realität bleiben.
(Clemens Binder, 15.4.2020)