Syrien steht an einem neuen Nullpunkt

Syrien steht an einem neuen Nullpunkt

Die Presse
Gastbeitrag von Cengiz Günay und Judith Kohlenberger
22. Dezember 2024

Der nun doch überraschend schnelle Fall Assads legt offen, wie sehr das Regime bereits geschwächt war. Nach 13 Jahren Krieg liegen der Staat, seine Institutionen, Straßen, Häuser sowie Energie- und Wasserversorgung in Trümmern. Die Wirtschaft des Landes war kollabiert. Neben dem Krieg hatten auch die internationalen Sanktionen der Wirtschaft zugesetzt. Industrie und Landwirtschaft kamen zum Erliegen. Das Land ist weitgehend von teuren Importen aus dem Ausland abhängig.

Dürre und das verheerende Erdbeben 2023 setzten dem Land weiter zu. Viele Häuser, Schulen, Krankenhäuser und andere Einrichtungen sind weiterhin nicht benutzbar. Allein die Schäden des Erdbebens belaufen sich laut Weltbank auf über fünf Milliarden Dollar. 2022 waren 69 Prozent der syrischen Bevölkerung von Armut betroffen. Das Regime konnte sich angesichts dessen nicht mehr halten, auch nicht durch Gewalt. Das Ausmaß der Brutalität wird nun erst sichtbar. Täglich werden Folterkammern und Massengräber entdeckt.

Droht neuer Bürgerkrieg?

Der Fall des Regimes öffnet ein neues schwieriges Kapitel für Syrien. In die Hoffnung mischt sich Sorge. Es gilt, das Land zu einen, eine Übergangsregierung zu bilden, Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, Staat, Wirtschaft und ein politisches System aufzubauen. Das Regime ist zwar besiegt, aber weiterhin gibt es verschiedene, zum Teil radikale Rebellengruppen. Die zivilen oppositionellen Kräfte sind schwach und zerstritten. Auch regionale staatliche und nicht staatliche Kräfte wollen in Syrien mitmischen. Die siegreiche islamistische Hayat Tahrir al-Sham steht vor der schwierigen Aufgabe, sich von einer Rebellenmiliz in eine politische Bewegung zu verwandeln.

Um einen weiteren Bürgerkrieg zu verhindern, gilt es jetzt, vor allem die multiethnische und multikonfessionelle Struktur Syriens zu respektieren und die Rechte von Frauen und religiösen Minderheiten zu gewährleisten.

HTS steht nicht für Freiheit

Dabei steht die Rebellengruppe HTS nicht unbedingt für Inklusion, Demokratie und Freiheit. In Idlib, im Norden des Landes, wo die Rebellen die Offensive gegen das Regime starteten, regierte HTS jahrelang mit eiserner Hand. Auch wenn in den vergangenen Jahren eine Modernisierung zu beobachten war, gibt es Klagen darüber, dass HTS zwar verschiedene islamistische Kräfte inkludierte, aber Oppositionelle einsperrte. Erst im Mai 2024 brachen in Idlib in Folge des Todes eines Häftlings Proteste aus. HTS-Sicherheitskräften wurde vorgeworfen, den Mann zu Tode gefoltert zu haben. Ebenso gibt es Berichte über Klientelismus, Korruption und Vetternwirtschaft.

Mehr Probleme als Lösungen

Angesichts der aktuellen Situation in Syrien entbehrt die Diskussion über eine sofortige Rückführung von Flüchtlingen jeglicher Realität. Deshalb ist die Warnung der EU-Kommission vor überhasteter Rückkehr weniger als humanitäre Geste denn als realpolitische Einschätzung zu verstehen. Eine Rückkehrbewegung im großen Stil würde das politisch wie wirtschaftlich darniederliegende Land überfordern und könnte Spannungen zwischen religiösen Gruppen, zwischen Daheimgebliebenen und Heimkehrern, zwischen Deserteuren und ehemaligen Foltergefängnis-Insassen befeuern.

Ohne begleitende re-integrative Maßnahmen und eine massive Unterstützung in den Wiederaufbau Syriens können Heimkehrer mehr Probleme als Lösungen bringen. Europäische Politiker und Politikerinnen sind gut beraten, nicht hastig und unüberlegt zu agieren. Auch deshalb, weil jene Geflüchteten, die bereits 2015 angekommen sind, mittlerweile gut in das Arbeits- und Sozialleben ihrer Aufnahmeländer integriert sind; nicht wenige haben trotz hoher Hürden inzwischen die Staatsbürgerschaft erworben. Und sie sind insbesondere in jenen Wirtschaftszweigen tätig, die von Arbeitskräftemangel bedroht sind. Ihre Rückführung, wie nun vorschnell gefordert, würde z. B. das Gesundheitssystem und den Tourismus vor enorme Herausforderungen stellen. In Deutschland äußerten Berufsverbände bereits offen ihre Sorge über eine Verschlechterung der Gesundheitsversorgung, wenn zahlreiche syrische Ärzte und Pflegekräfte in die Heimat zurückgingen.

Populistische Debatten

Statt populistische Debatten über Abschiebungen nach Syrien zu führen, wäre es also ratsam, zur Stabilisierung des Landes beizutragen. Es gilt, Menschen nicht zu drohen, sondern nachhaltige, freiwillige Rückkehr zu ermöglichen. Österreich sollte sich, gerade weil es hier eine relativ große syrische Diaspora gibt, aktiv einbringen. Syrer und Syrerinnen dürfen nicht Gegenstand von Debatten, sondern müssen Partner in der Entwicklung von Strategien, Programmen und Konzepten sein.

Es wäre deshalb wichtig, einen inklusiven Dialogprozess zu starten, bestehendes Know-how und Ressourcen abzuholen und gemeinsam eine Strategie für die zukünftige österreichische Syrien-Politik zu entwickeln.