Krieg in der Ukraine

Krieg in der Ukraine

Vedran Džihić
Senior Researcher

Falter, 9/22, Seite 15
Vedran Dzihic

Du spürst das Unheil kommen und doch verdrängst du es. Die Augen sehen es, doch das Herz glaubt noch immer nicht daran und hofft, dass alles gut werden wird. Am Ende wird es aber nicht gut. Als meine Mutter im Oktober 1991 der Rede des später verurteilten Kriegsverbrechers Radovan Karadžić im Parlament von Bosnien-Herzegowina hörte, in der er dem Land mit dem Weg in die Hölle und ins Verderben drohte, drehte sie sich mit Tränen in den Augen zu meinem Vater um und sagte leise: „Es ist aus. Das ist der Krieg.“ Wir wollten und konnten es nicht wahrhaben. Einige Monate später klopfte der Krieg an unserer Haustür und veränderte mein und das Leben meiner Familie für immer.

Als ich letzte Woche die diabolische Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin anhörte, wusste ich sofort, dass ein brutaler Krieg kommen wird. „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“, hallten in mir die berühmten Worte von Bertolt Brecht aus seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ nach.

In Flashbacks, die mich in den Tagen und Nächten seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine begleiten, vermischen sich Bilder und Emotionen von damals und heute und werden zu einem Amalgam der Angst und der Sorge um all jene, die heute in der Ukraine leiden.

Der Krieg ist ein Affront gegen das Menschsein. Der Krieg zermalmt die Pluralität des Menschen, in dem er hineinruft: „Du darfst leben und bleibst verschont. Du aber, der Du das Andere bist, musst sterben.“ Der Krieg prägt sich all seinen Opfern tief ins Gesicht. Ich kann mein Gefühl von damals wieder spüren, den Moment, als die Angst in mich hineinkroch, die letzten Winkel meines Körpers erreichte. Doch man funktioniert, man wird zu einer Überlebensmaschine, die vom Wunsch nach Leben und der Hoffnung auf den Frieden und die Sicherheit angetrieben wird. Was Krieg wirklich bedeutet, versteht man erst, wenn er vorbei ist.

Am Wochenende verbreitete sich im Internet ein kurzes Video eines ukrainischen Buben auf der Flucht. Mit tränengetränkten Augen sprach er von seinem Vater, der zurückgeblieben sei, um den ukrainischen Streitkräften zu helfen. In einem Moment sah ich vor meinem inneren Auge mein eigenes Gesicht inmitten meines Krieges mit dem Gesicht des kleinen Buben verschmolzen. Und dann spürte ich wieder die leise aufkommende Hoffnung, dass der kleine Bub, genauso wie ich heute, einmal ein erwachsener Mann sein wird, der das Gesetz der sinnlosen Zerstörung im Krieg für sich und seine Liebsten mit dem Gesetz der Hoffnung und der Liebe ersetzen wird können.